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Mittwoch, 1. April 2015

Eine objektive Wirklichkeit

Es ist auf eine Weise gleichgültig, ob ich beim Betreten eines Fährschiffes in die Kabine stapfe, einschlafe und erst am Zielhafen wieder aufwache, oder ob ich an Deck die schweren Stürme erlebte und mir angsterfüllt bewußt war, auf welch Messers Schneide mein Lebensschicksal stand. In beiden Fällen war die objektive Wirklichkeit, in der alle am Schiff standen, für alle gleich - als Beziehung zu etwas. Dem Meer, den Unwettern, etc. An jedem Posten, an jedem Ort, wo jemand stand, war sein "für" anders definiert als beim Nebenmann, und der andere wußte meist nicht einmal von den Details der Wirklichkeit des anderen. Der eine hatte das Tau zu ziehen, der andere die Kohlen zu schaufeln, und der dritte die Sterne zu beobachten. Während der Passagier nur seine Koffer trocken zu bewahren und sich festzuhalten hatte.

Stellvertretend für mich, der ich unter Deck schlief, haben die Matrosen diesen Kampf gegen den Orkan in ihrem jeweiligen "für" ausgefochten, hat der Kapitän die Maßnahmen koordiniert, und mit seinem und der Matrosen Sieg auch mich heil ans Ziel gebracht.

Der eine Passagier an Deck freilich, der das Vertrauen verlor und ins Meer sprang, nahm allerdings an diesem Heilsschicksal nicht teil. Es wäre ihm offengestanden, aber er verlor das Vertrauen. Sein subjektives Erleben entsprach nicht der objektiven Wirklichkeit, seine Vernunft hatte einen falschen Bezugspunkt.

Wer aber die Identifikation mit dem Schiff aufrecht hielt, wer Teil dieser Wirklichkeit bliebt - der hat überlebt. Der eine freilich ward verschollen. Aber er war Teil der Gemeinschaft am Schiff, und man trauert um ihn und leidet, denn einer fehlt nun, zu dem man Beziehung hatte (und weiter hat). Es lag an ihm, aber er riß sich aus dieser Gemeinschaft, aus diesem Beziehungsgefüge, in dem jeder "für" war*, warf sich auf sich: Aus seinem "für-sein" wurde ein "für-sich-sein-wollen".

Kein Mensch ist nur "für sich", er ist immer "für" etwas und andere, und er wird im Moment seines Lebensbeginns Glied vieler Wirklichkeiten. Das macht seine Wirklichkeit aus. Er gehört immer zu einem objektiven, wirklichen Ganzen, und er gehört zu vielen objektiven Ganzen, wo das Schicksal des Ganzen ihn, aber auch er das Schicksal des Ganzen mit bestimmt. Diese Wirklichkeit ist sein Sein, diese Wirklichkeit IST das Sein, und es ist eine je geistige Wirklichkeit, ohne die das Materiale der Dinge und seiner selbst nicht und nichts wäre. Weil alles (auf seine Weise, als lebender Mensch, als toter Stein, als Tier oder Pflanze) nur ist, weil und soweit es "für" ist. Das Wesen dieses je subjektiven Seins ist (definiert in seinen Möglichkeiten) dafür ausschlaggebend, wie dieses "für" zu erfüllen ist.

Da gibt es "für", das allen gleich ist - alle sind Schweizer oder Österreicher oder Haitianer, "für" das manche spezifisch verbindet, wie die Fußballmannschaft, die ebenfalls an Bord war, und "für", das nur einzelnen eigen ist, wie der Ornithologe, dessen Herz im Sturm ebenso rasend schlug wie das des Kanarienvogels, den er unter Deck mitführte. Und doch sind alle in einem Konzert des "für" verbunden, in einer Wirklichkeit. Wo es einen trifft, trifft es viele, manche, und doch auch alle.

Nur der Freie, der Mensch kraft seiner Vernunftfähigkeit, kann sich aber gegen ein "für" und für ein "für-sich" entscheiden. Immer aber verletzt er dabei Ganzes, wird diesem gegenüber schuldig.




*Selbst die Passagiere waren "für", denn ihr Dasein war für die Matrosen, die stellvertretend für jene den tätigen Kampf führten, wesentlich im Mühen, das Schiff zu retten, nicht "für-sich" sein zu wollen, sondern auch "für" die Passagiere, für alles, worin sich ihre Beziehungen entfaltet, und die das Ganze des Schiffes, seine Wirklichkeit ausgemacht haben.




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