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Donnerstag, 9. April 2015

Gehorsam in den Gesetzen, die im Materialen angelegt sind

Man kann von Kunst (und Künstler) erst dann sprechen, wenn das Material, die Form, der Gegenstand der Bearbeitung jene Welt ist, aus und in der der Bildende, Formende lebt. So wird dieses Material zur Welt der Lebenserfahrung, des Lebens selbst, das geführt wird. Als Ort, in dem sich Hingabe vollzieht.

Dem Schauspieler sind so seine Rollen jene Welt, die sich für den "Normalbürger" im Alltag ergibt. Mehr hat er nicht, er hat wirklich nur die Bretter, die die Welt für ihn bedeuten weil sind. Sein Gesicht zeigt die Rollen, die er gespielt hat. So, wie man einem Fischer an seinem Lebensende die Wellen und das Meer abliest, einem Schneider seine Stoffe und Stiche. 

"Wir spielen immer" titelt deshalb die Autobiographie von Will Quadflieg. Aber nicht, weil er nichts ernst nimmt, wie man das Spiel gerne mißinterpretiert (denn Spiel wird etwas nur dann, wenn man die Regeln absolut ernst nimmt; mischt man Ansprüche aus anderen Bezirken darein, wird jedes Spiel zerstört. Der "Nicht-Verlieren-Könner" ist nicht deshalb unerträglich, weil er die Spielregeln zu ernst nimmt, sondern das Außerhalb hereinspielen läßt.) 

Man ist nicht Künstler, Schauspieler, weil man nichts ernst nimmt, sondern weil eine Rolle das Feld sein muß, in dem sich ein Menschenleben vollzieht, um zum Schauspieler (als Beruf) geeignet zu sein. Das bloße Schauspiel selbst ist ja sonst etwas, das jedem Menschen möglich ist. Das ist es aber nicht, was den Normalbürger vom Künstler unterscheidet. Nahezu jeder Mensch kann schauspielen. Aber er ist deshalb kein Künstler. Und er ist es auch nicht, wenn er etwas "virtuos" beherrscht.

Es ist die Bedeutung, die ausschließliche Bedeutung. Weshalb für den Schauspieler eine Haltung kennzeichnend ist, in der eine Rolle, sobald sie ausgereizt ist, wieder abgeworfen wird, um eine neue zu übernehmen.

Das gilt für jeden anderen Bereich der Kunst nicht weniger. Das gilt auch für Lebensbereiche, die nicht explizit als Kunst anerkannt werden, und doch zur Kunst steigen können - und dann können es wohl alle Lebensbereiche. Dann, aber erst dann! wird der Mediziner, der Tischler, der Politiker, der ... zum Künstler. Als Endpunkt auf einem langen Weg der Hingabe, in der er sein Medium dem alltäglichen Zweckgestreite entrissen hat. Plötzlich gibt es dann auch das "Arztgesicht", das "Tischlergesicht", das "Schneidergesicht", ... es wurde vom Lebensfeld geprägt. 

Leben als Liturgie, als Ritus eines Selbstvollzuges, der sich an einem Bild orientiert, das als Ziel am Ende steht. Denn jeder Schritt darin, jeder Handgriff im Alltag - es formt diesem Bilde zu. Das aber dynamisch verstanden werden muß, denn man kann es nur ahnen, fühlen, man kann es nicht im Voraus definieren, in Details festlegen. Das ist nur ein Übergangsstadium des Jungen, des Kindes, des Jugendlichen, als erstes Hineinsteigen in eine Dynamik, wo er das Material zu besitzen lernt, in das hinein er sich mehr und mehr hingebungsvoll ergießt. Was im Bilde erstarrt, in dieser Weise verstanden, ist bereits tot.

Nur in der sterbenden Hingabe an das Aktuale des Materialen wird das Endbild, das man dereinst präsentieren wird, schöpferisch und offen gehalten - und man selbst wird es erst dann sehen. Denn alle Bilder stammen aus Gott, sie sind aber dynamis, Kraft, je neu und geschenkhaft, nicht fixierte menschliche Vorstellung, die aus dem bereits Bekannten stammt, woher sonst. Man kennt nie das Geheimnis des Werdens, nur die Gründe des Scheiterns.

Nicht vergessend, daß das Materiale selbst, im strengen Sinn, gar nie Form "ist", sondern nur - aus Geist - Form als Gestalt trägt, aus "mater" zu "pater", aus welcher gezeugten, erstandenen Gestalt es seine Zubehörigkeit und Widmung zu einer Formenfamilie (Begriffsfamilie) verrät. Wenn hier also behauptet wird, daß es im Mateialen läge, dann nur wenn man berücksichtigt, daß dieses Materiale bereits einer Gestaltenfamilie und Begriffswelt zugeweiht wurde. Hier ist also nicht die Rede von der Erstursächlichkeit, sondern von der Zweitursächlichkeit "innerhalb des Materialen", und diese Welt ist, für sich betrachtet, eine Welt des Zweitursächlichen, das aus dem Zueinander des bereits Gestalt einnehmenden Materialen stammt.²

Wer aber nicht - zumindest nach und nach, als Ergebnis eines oft langen, in Geduld zu ertragenden Ablösungsprozesses - sein Heil im Material (das also bereits einer gewissen Formenschule unterzogen ist; es handelt sich bei dieserm Begriff also um ein Materiales/materia 2. Stufe, aus bereits zum "Seienden" geformter materia prima) sucht, der ist nicht nur nicht für die Kunst, der ist fürs Leben untauglich. Hier wie dort wird er nur billige, tote Plagiate setzen. Die Nachfolge Christ ist deshalb die Nachfolge auf dem Weg zum größten Künstler, der die Welt jemals betreten hat - Gott selbst. Der Weg des Mystikers, des Heiligen, ist haargenau derselbe, wie ihn der Künstler zu gehen hat. Theresia von Avila's Schriften, die ihres Seelenkumpanen Johannes vom Kreuz, sind Anleitungen von höchstem Wert - für den Künstlerweg. 

Den Weg, wie ihn jeder Mensch zu gehen hat, will er leben, will er immer mehr leben, und das heißt: Als Figur, im Darstellen reine Realität sein. 

Der Entschluß des Künstlers, nur in diesem oder jenem Material - unter dem Diktat jener Form - zu leben, ist lediglich eine kulturell entwickelte Herausformung (Dialektik ist die Herausarbeitung einer Teil-Anti-These aus einer Synthese, ist der Weg zur kulturellen Diversifizierung als Vollzug zur hohen Kultur) der Radikalität zur Heiligkeit. Bestenfalls der Arbeitsteiligkeit vergleichbar, einem Prozeß in derselben Linie, die nur ein immer weiterer Schritt zur Geistigkeit - des Ganzen, von dem man immer mehr Teil wird, weil Teil wird - ist. 

Die Entfaltung des Materialen, was immer es sein möge, ist geistiger Gehorsam, weil er auf jenen Geist, jene Form abzielt, die dem Materialen das aufprägt, was ihm möglich ist - und das ist im letzten: Alles. Denn Materia (Mutter) kann alles sein.*

Und so umgibt jeden Menschen zum Menschsein hin ein Ritus, eine Situation aus Bewegungsgesetzen und -rhythmen, eine Liturgie, die es (in Einübung, in Erneuerung am Archetypischen, Quellhaften allen Lebens) zu vollziehen gilt. In ihren Rhythmen wird jene dynamis wirklich, dem Menschen eingeprägt, zu ihm selbst geworden (denn ohne Ritus gibt es gar kein Menschsein, Menschsein heißt: Darstellung eines Ritus) als Schaffensstruktur die in jedem seiner Werke wiederhallt, ja deren Widerhall seine Werke sind, die die Welt zur Analogie Gottes, zum Ausdruck seiner Ideen macht.** 

Kultur bedeutet: Institutionalisierung von Rhythmen, von materialisierte, damit wirklich gewordenen Bewegungsgesetzen.


²Der Töpfer hat es mit Lehm zu tun, nicht mit materia prima. Der Schauspieler mit realen Personen. Der Maler mit Leinwand und Farbe und dem Baum, der vor ihm steht. Alles bereits in die Zweitursächlichkeit hinein geformte materia prima. Kunst muß sich also immer auf Zweitursächlichkeit - "Welthaftigkeit" - beziehen, die in ihrer Wahrheit die Erstursächlichkeit lediglich (transzendental, also: das Materiale übersteigend) anzeigt, in die ja alles mündet weil in ihr letztlich gründet. (Ohne im Sein zu sein, gibt es kein Seiendes; kein Seiendes, das nicht "ist" - "isset", als Akt.) Das berührt im übrigen das Problem der "sakralen Kunst", der Möglichkeit, Gott überhaupt darstellen zu können, an dem das Abendland in Ost und West erstmals zerbrach ("Bilderstreit"), und wodurch sich Orient und Okzident bis heute maßgeblich unterscheiden. Im Islam ist die Darstellung Gottes sowieso untersagt, im Judentum darf nicht einmal der Name Gottes ausgesprochen werden, er wird umschrieben. Im Christentum gilt aber eine neue Form der Vertrautheit, durch Gott - als Sohn - mit Namen, und seiner stellvertretenden Erlösung, in der wir zu Kindern Gottes erhoben Gott "Vater" nennen dürfen, wenn wir es wollen ("bonae voluntatis"). Und genau deshalb ist der Papst als Stellvertreter Christi nicht in allem Faktischen einfach "hinverweisendes Abbild", sondern nur dort und nur so weit, als er selbst vom bloß Subjektiv-Zufälligen gereinigt Abbild vom Urbild ist. Was im letzten nur noch in der "ex cathedra"-Entscheidung gewährleistet ist. Der Rest kann auch ganz gräßliches Kiki sein. Wie in der Kirchengeschichte gar nicht selten geschehen.

*Deshalb kann jede Frau, so sie nicht bereits verdorben, also ungemäß geprägt ist, in jedem Stand vollkommene Identität darstellen weil übernehmen. Die Frau verfehlt sich und ihr Ziel fundamental, wenn sie selbst meint, ein Identitätsbild zur Ausprägung (Wirklichkeit) bringen zu sollen oder zu müssen, das "aus ihr" stammt. Der Feminismus zielt ins Nichts, nicht in ein Ersatzsein.

**Darin liegt die erste Stellung der Architektur in der Antike begründet: Denn sie ist es zuerst, die menschlichen Rhythmus prägt, und deshalb alle sonstigen Lebensvollzüge vorgeprägt in sich birgt, im weiteren Leben nur noch entfaltet.




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