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Samstag, 20. Juni 2015

Kerneigenschaften des Lebendigen

"Ganzheit läßt sich nicht abstrakt verwirklichen. Verwirklichung heißt Konkretisierung. Konkretisierung der Ganzheit aber [...] ist nicht direkt, sondern nur in den Wesenseigentümlichkeiten der organischen Natur möglich. Damit der in Fall II [...] angegebene Sachverhalt* mit den Bedingungen raumzeitlicher Dinglichkeit übereinkommt oder wirklich werden kann, muß das raumzeitliche Körperding die Eigenschaften des Lebens annehmen. 

Eine derartige Deduktion der Kategorien oder Modale des Organischen - wohlgemerkt nicht aus dem Sachverhalt der Grenzrealisierung,** denn den gibt es ja für sich nicht, sondern unter dem Gesichtspunkt seiner Realisierung - bildet den Zentralteil der Philosophie des Lebens. [...] Von Panlogismus und Rationalisierung der Kategorien darf also nicht gesprochen werden, wenn es gelingen sollte, das Leben in seinen wesentlichen Erscheinungen als die Reihe der Bedingungen nachzuweisen, unter welchen allein eine Gestalt Ganzheit ist."


Helmuth Plessner, in "Die Stufen des Organischen und der Mensch"


*Plessner meint damit das Ergebnis seiner Analyse, aus der heraus er nachweist, daß das eigentliche Merkmal des Lebendigen nicht, wie oft angegeben, die Selbstregeneration einer Ganzheit oder die teleologische Entelechie (auch in der Selbstreparatur) ist - das alles ist kein zwingendes Merkmal des Lebendigen, es läßt sich auch im Anorganischen nachweisen (man denke nur an die Kristalle, oder die Benetzung eines von Quecksilber umschlossenen Gegenstands, der zerbrochen wird, woraufhin sich um jedes Bruchstück die Quecksilberdecke wieder schließt, oder an elektromagnetische Eigenschaften, etc. etc.) - das führt zu falschen Rückschlüssen! 

Es ist vielmehr der Umstand, daß eine lebendige Gestalt seine Grenzen VON EINEM INNEREN GANZHEITSPRINZIP HER selbst setzt, aufrecht hält, sodaß also seine Grenze von ihm selbst definiert wird, weil seine Grenze zu seinem Wesen gehört. Wo ein Lebendiges seine Grenzen (etwa durch grenzenloses Wachstum) überschreitet, also seine Grenze von innen her nicht setzen kann, stirbt es (man denke an Krebs; Anm.), ist es entartet und nicht lebensfähig. Genauso wie dort, wo es bestimmte Grenzen (bzw. Größen, auch im Sinne von Gestaltreife) nicht erreicht (man denke an einen Keimling, oder an einen Embryo; Anm.)

Das Lebendige hat also nicht nur dort Grenze, wo es durch ein begrenzendes Außen, ein "Gegen-ständliches" in einer Gestalt gehalten wird. Was lebt, hat immer diese Tendenz. Das Anorganische - vereinfacht gesagt - erhält also seine Grenze vom Lebendigen, wenn sie aufeinandertreffen. Das Lebendige aber hat seine Grenze aus seiner Innerlichkeit heraus.

Das betrifft natürlich auch die Bewegung: man denke etwa an den einfachen Akt des Hebens eines Arms, um etwas zu ergreifen. Es ist eine konkrete, eingegrenzte Gesamtbewegung sämtlicher physiologisch beteiligter Teile (wenn nicht sogar des ganzen Körpers), nicht eine fortgesetzte Bewegung von einem räumlich entfernten Zentrum her, das sich mechanistisch-linear über Schulter und Ellenbogen auf Hand und Finger fortsetzt. Das sich aber durchaus anorganischer Verhältnisse bedient (das Blut etwa muß einen Weg zurücklegen, sonst wäre die Hand nicht integrierbar; der Mensch oder das Tier oder die Pflanze muß sich Nahrung zuführen, die sogar ins Anorganische im Verdauen zerlegt werden muß, sonst kann sich nichts bewegen), ja die Innerlichkeit setzt diese sogar bereits voraus. Wenn es auch innerhalb des Organischen klare Stufen gibt, deren höchste die Geistbegabung beim Menschen ist. Nicht einmal die Phantasie, denn auch ein Tier ist täuschbar oder träumt sogar, hat also eine gewisse Vorstellungsbegabung, aus der heraus es sich bewegt, wenn diese auch immer bedingt, nicht frei ist.

Eine lebendige Bewegung trägt also den Charakter einer Erfüllung eines vorausgehenden Zieles. Die Form des Lebendigen geht also der faktischen Form (Gestalt) voraus, hebt sich ab - auf ein Erfüllungsziel hin. Sie hätte auch anders sein können. Die anorganische Bewegung hingegen IST immer auch ihre Form bzw. Bahn. Lebendiges behauptet Raum, es füllt ihn nicht nur aus.

Das Lebendige ist also das, das sich zu seiner Grenze aus seiner Innerlichkeit als Ganzes verhält. Es ist dem Angrenzenden gegenüber, und besitzt den Übergang selbst. Ja, am Verhältnis zu seiner Grenze läßt sich Lebendiges vom Nicht-Lebendigen unterscheiden. Es ist prinzipiell nur erschaubar, nicht "meßbar". Es ist gleichermaßen über sich hinaus - und darin, als Gestalt, im ständigen Werden (als "Bleiben"), in sich hinein. Sein Sein hört nicht an der faktischen Körperlichkeit auf (wie beim Anorganischen), sondern das Lebendige ist immer "angehoben", über sein Faktisches hinausgehoben.

**Das bezieht sich auf den Umstand, daß zwar alles Dingliche eine Grenze hat, daß es diese Grenze aber "nicht dinglich gibt". Sie ist, sie ist sogar wesentlich, hat aber kein direkt feststellbares, dingliches Sein, sondern ist "im Ding", ja sogar in dessen Innerlichkeit "als Ganzes". Denn ein Ganzes als Dingliches gibt es nur in einer Grenze. Beim Lebendigen kommt noch etwas hinzu: Denn auch bei Deformation, bei Unregelmäßigkeit, ja gerade dann, bleibt es ein Ganzes - es zeigt eine gewisse Rhythmik, in aller Variierbarkeit (man denke an den Herzschlag)! Es wächst sogar der Eindruck der Lebendigkeit, je unregelmäßiger etwas ist, und sich dennoch von einer Form "umhüllt" als Gestalt zeigt. Dann gelangt diese Selbstbegrenzung quasi "in die Wahrnehmung".




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