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Dienstag, 30. Juni 2015

Unersetzbar in der Identität

Identität, schreibt Dorothee Sölle, ist Relation. In dieser ist auch Unersetzlichkeit gegeben. Jeder Spieler, jeder Mensch trägt wie im griechischen Theater die Maske seiner Rolle. Nicht auf die Rolle aber kommt es an, sondern wie (und ob) er sie ausfüllt. Das tut jeder auf seine Weise, das macht sie individuell. Das Eigentliche der Person verbirgt sich hinter der Maske, auch wenn Maske und Person dahinter emprisch zu einem werden.

Gott beurteilt aber nicht nach der Art von unwissenden, ungebildeten Zuschauern, oder danach, welche Rolle jemand spielt. Weder der soziale noch der moralische Status einer Rolle geben den Aussschlag. Gott fragt nur rollenimmanent: ob der einzelne die Möglichkeiten der Rolle ausgespielt - oder sie vertan hat. Er fragt nur danach, wie sich die Seele im Gewande der jeweiligen Rolle hält und bewährt.

In diesem theatrum vor Gott ist der Einzelne zwar vertretbar, aber nicht ersetzbar. Denn wer nur vertritt, der verdrängt den anderen nicht: wenn die Mutter stirbt, und der Mann nimmt sich eine neue Frau, und diese versteht sich als Vertretung, bleibt der Bezug zur verstorbenen Mutter erhalten. Ersetzt sie diese aber, fällt diese ins Nichts.

Wird aber die Identität des Einzelnen nicht mehr als von Gott gegeben angesehen, das heißt: als dem absoluten entstammende Aufgabe erfaßt, verliert sie den Charakter der Eimaligkeit und wird ersetzbar. Und das ist, so Sölle, nach dem Verlust des metaphysischen Bezugs der Fall.

Seiner theologischen Identität, der von Gott gestellten, übergebenen Aufgabe entbunden, flieht der Mensch in die Rolle seines eigenen Regisseurs. Er wird nicht mehr nur zum Spieler, sondern zum Schöpfer seiner eigenen Rolle. Er will seine Identität nicht mehr empfangen, sondern leisten.

Aber eine geleistete Unersetzbarkeit kann nur Schein sein. Denn jede Leistung - so beweist es tagtäglich die Welt er Arbeit - ist ersetzbar und austauschbar. So, wie es sich in der arbeitsteiligen kapitalistischen Gesellschaft genau aus diesem Verlust des Bezugs auf die Spielordnung in Gott entwickelt hat, ist es folgerichtig unerheblich geworden, WER etwas tut. Stattdessen wird die Arbeitsleistung unter das Paradigma der Perfektion gestellt, und die Arbeitsstelle (Rolle) entlebendigt. Denn der Mensch ist eben der, der einmal unausgeschlafen ist, der einmal versagt, Fehler macht, nervös oder krank ist, während seine positive Leistung nur das Erfüllen des ohnehin Verlangten bedeutet.

Kündigt oder stirbt so ein Mitarbeiter, wird er damit augenblicklich "voll" ersetzt. Deshalb dominiert die Angst, die sogar eine Todesangst ist: Denn mit der Ersetzbarkeit steht der Mensch jederzeit in der Gefahr, buchstäblich zum Nichts zu werden.

So ist das Wort Vertreter aus seinem eigentlichen Bezug - Stellvertreter, d. h. in diesem einen begegnet dem Gegenüber das Ganze des (in diesem Fall:) Unternehmens, noch früher gar: Chefs - herausgerissen worden, und wird zwar heute noch verwendet, aber im falschen Sinn: nämlich als Ersatz. In einer funktionalisierten Geschäftswelt vertritt der Vertreter nur noch Artikel (schon gar beim Markenartikel), er selbst ist aber jederzeit ersetzbar. Damit fehlt jeder persönliche Bezug, die Person kommt nicht mehr vor.

Und damit fehlt aber auch der Lebenserfüllung durch den Einzelnen das maßgebliche Element des "heroischen Kampfes". Er wird als Wirkmotor durch das Gefühl der Angewiesenheit und Unsicherheit, ob man ihn überhaupt braucht, ersetzt, seine Identität ist ständig gefährdet. Bestenfalls noch seine Kollegen geben ihm hierin Bestätigung, seine eigentliche Rolle tut es nicht mehr. Und stehen sie in Solidarität zueinander, so ist auch echte Stellvertretung möglich: in der diese ihm in einem Versagen "vertreten", den Drachen erschlagen, auch wenn er gerade schläft, aber ihn nicht ersetzen, sondern ihm auch den Lohn zukommen lassen. Weil jeder fehlt, ist damit auch jeder auf Stellvertreter in diesem Sinn angewiesen.


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Übrigens zeigt Sölle auch einen wesentlichen Aspekt des Verhältnisses von Lehrer zu Schüler auf, nämlich genau diesen Begriff der Stellvertretung darin: Die Aufgabe des Lehrens muß sein, eine Identität zu vertreten, die sich der Schüler allmählich aneignet. Solange der das nicht kann oder will, hält ihm der Lehrer dennoch diese Stelle - seine Zukunft damit - offen. Ein Lehrer, schreibt die protestantische Theologin, die in des Wortes doppelt verstehbarem Sinn A-Theistin ist, der sich nicht selbst erübrigt, der sich nicht aufhebt und überflüssig macht, ist ein schlechter Lehrer. Verweigert umgekehrt der Schüler die Wahrnahme seiner Verantwortung (diese Identität anzunehmen), ist Strafe notwendige Folge des Erhalts der Ehre.

Aber nicht als etwas, das einfach von einem Subjekt über einen Pönitenten verhängt wird, sondern in dem der Lehrer die Strafe mitträgt, die ihm selber genauso schmerzt. So wird sie zum personalen Vollzug. Etwa indem er beim Nachsitzen des Schülers anwesend ist, ihm damit signalisiert: ich halte dir deinen Platz stellvertretend offen; ich denke dir (in Verantwortung) ein Bild deiner selbst zu, das du ergreifen sollst, weil es für dich gut ist. Denn wenn du das nicht tust, keine Rolle und Identität annimmst indem du dich mit mir identifizierst, würdest du dem Sog der Umstände anheimfallen.




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