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Sonntag, 7. Juni 2015

Wo die Geisteskrankheit beginnt

Das, was wir landläufig als Geisteskrankheit bezeichnen, hat mit einer Erkrankung des menschlichen Geistes gar nichts zu tun. Es sind Behinderungen des Geistes, ja, Störungen des Trieblebens, des Vorstellungsablaufes, ja, Störungen der Wirklichkeitserfahrung, gewiß. Aber an allen diesen Störungen kann der Geist sogar noch wachsen und reifen. Sie liegen unter ihm, und betreffen nicht seinen eigentlichen, engeren personalen Vollzug. (Damit hängt auch zusammen, daß viele sogenannte Geisteskranke, in Anstalten gar, einen Blick aussenden, der einen in seltsamen Zwiespalt versetzt: Denn man spürt hinter ihrer Verrücktheit einen außerordentlich klaren Geist, der genau weiß, was sich hier im Vordergrund abspielt.)

Eine wirkliche Erkrankung des Geistes ist von seinem Inhalt nicht zu trennen. Er kann sein Leben nicht beliebig führen, ohne daß es auf ihn zurückwirkt. Die wirkliche Geisteserkrankung setzt dort an, wo der Mensch aufhört, nach der Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu streben, wo er aufhört, das Gültige zu suchen, die Wahrheit, die Güte. Erst wenn er davon abgleitet, so schreibt Romano Guardini einmal, wird er als Geist in Frage gestellt.

Dieser Abfall ist nicht schon gegeben,wenn der Mensch irrt, schreibt Guardini weiter. Er ist gegeben, wenn er die Wahrheit aufgibt. Nicht schon, wenn er lügt, auch nicht wenn er häufig lügt. Sondern wenn er die Wahrheit als solche nicht mehr als verpflichtend nimmt. Nicht, wenn er die anderen täuscht. Sondern wenn er sein Leben darauf ausrichtet, die Wahrheit zu zerstören. 

DANN erkrankt er im Geiste. Das muß nicht einmal psycho-pathologische Wirkungen haben, solche Menschen sind sogar oft erfolgreich und wirken kräftig. Trotzdem wäre er krank, und ein nicht nur psychisch, sondern auch geistig sehfähiger Beobachter würde es wahrnehmen.

Wenn er also von der Wahrheit abfällt, dann wird er krank. Wenn er nicht mehr danach strebt, Gott und die Wahrheit zum Inhalt seines Aktes zu haben. Denn die Qualität, die Güte eines Geistes, schreibt Augustinus, hängt vom Wert und Rang des Inhalts ab. Dieser Wert aber, als Ziel, als logos (als: auf etwas hin), ist dem Geist als Aufgabe gegeben, er ist nicht einfach da oder eine Art Schicksal. Es ist Aufgabe seiner Freiheit, diesen Inhalt und Rang zu wählen. 

Der Wertrang eines Geistes bestimmt sich also aus seiner Freiheit, und damit auch sein Wirklichkeitsgrad, seine Wirklichkeitssicherheit und -gefährdung, seine Gesundheit, und seine Krankheit.

Aber der Geist hat sein Dasein nicht aus sich, er hat es empfangen. Und das Sein an sich kann er auch nicht mehr aufheben, nicht durch den schlimmsten Akt, nicht durch die böseste Absicht kann er sich selbst vernichten. Er kann nur in einem nicht endenden Akt auf das Nichts zustürzen (Guardini), ohne es je zu erreichen. Er kann es soweit als wertverneinenden Akt in Frage stellen, daß sein Geist nur noch Träger von Verfehltheit und Verdammnis und Verzweiflung ist.

Von dieser Krankheit kann auch keine Psychiatrie heilen. Sie ist nur durch Bekehrung, durch Umkehr heilbar - als personalem, geistigem Akt. Sie müßte also in einer Sinnesumkehr (logos) bestehen, und das kann schwerer sein als jede psychiatrische Behandlung.

Denn die Person selbst wird nur durch Gerechtigkeit und Liebe gewährleistet. Nicht aber, wenn sie ungerecht handelt fällt sie ab, sondern wenn sie aufhört, nach Gerechtigkeit zu streben. Denn nur in der Gerechtigkeit gesteht man den Dingen ihr Wesen zu (das sie erst zu dem macht, was sie sind), und das Recht, daß die damit zusammenhängenden Ordnungen ihr Recht haben. Und damit ordnet sich auch der Geist - in den Sinn. Denn Gerechtigkeit heißt, die Dinge in ihren Sinnzusammenhang (logos) stellen bzw. haben wollen.*

Dem Menschen ist alles übergeben (Gen 1, 27-30). Nicht als Gegenstand seines Beliebens, sondern als wesenshaltiges Gotteswerk zu treuen Händen seiner Erkenntnis und Ehrfurcht. Das zu sehen und zu bejahen, ist Gerechtigkeit; die erste und alle anderen grundlegende sittliche Haltung. (Guardini, aaO.)


Dort mündet die Genesis direkt auch in den Kulturauftrag als jenen Ort, in dem sich diese Gerechtigkeit wirklicht, die aber ohne Ordnung der Dinge in ihrem Zueinander, ohne konkrete Hierarchie der Schöpfung undenkbar ist. 

Fällt der Mensch davon ab, wird er zu einer Macht (weil ihm die Mächtigkeit dazu natürlich bleibt) - ohne Ordnung. Er wird krank.

Ebenso bedeutend ist die Liebe, schreibt Guardini an anderer Stelle. Denn Liebe heißt, die Wertgestalt im fremden (vor allem im personalen) Seienden zu erblicken; heißt von der Sorge um die Verwirklichung dieses anderen Seienden erfüllt und bewegt zu sein. Deshalb geht, wer liebt, in die Freiheit, weil er von sich und seiner eigenen Gebundenheit weg geht. Freiheit ist also ein Akt bzw. eine Aktmächtigkeit des gesunden Geistes. Und damit kann das Eigene wirklich werden: im Weggehen von sich selbst. Das ist dann gesunder Geist.

Wer also von der Liebe abfällt, der ist es auch, der krank wird. Nicht, wer einmal gegen die Liebe verstößt, oder öfter, oder häufig, oder wer einmal haßt, oder oft, oder einmal selbstsüchtig ist, oder oft. Aber er ist dann krank, wenn er diese Liebe zu etwas Unernstem macht, zu einer Frage von List und Gewalt oder Berechnendheit. 

Er ist krank, wenn er die Unordnung zur Ordnung erheben will, und er ist definitiv böse, wenn er das fordert und für andere durchsetzen will.**

Dann wird sein Dasein zum Kerker, er verschließt sich. Alles verschließt sich. Die Dinge bedrängen. Alles wird zuinnerst fremd und feind. Der letzte, einleuchtende Sinn schwindet. Das Sein blüht nicht mehr.




*Somit erübrigt sich auch jede Diskussion über Gerechtigkeit, wenn man nicht ZUVOR die Frage der Sachgerechtheit diskutiert. Wer meint, letztere zugunsten ersterer ausklammern zu können, will keinesfalls Gerechtigkeit. Aus dem Umstand von Ungleichheit läßt sich also niemals Gerechtigkeit ableiten, eher im Gegenteil ließe sogar Ungleichheit, auch große Ungleichheit, auf Gerechtigkeit schließen.

**Deshalb steht der Fanatismus immer sehr der Bösheit nahe, ohne es aber immer schon zu sein. Denn der Fanatiker ist fanatisch, weil er über dem Nichts Willkürliches zu errichten sucht - ihm ist aber auch das Gute noch Willkür. Das ist sein ontischer Mangel, unter dem er selber am meisten leidet. Aber er ist nicht automatisch böse, lediglich noch nicht gut. Wenn es auch den bösen Fanatiker - aus denselben Konstellationen, aber mit andern Inhalten - gibt, und beim Fanatiker eins ins andere sehr rasch umschlägt.



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