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Sonntag, 25. Dezember 2022

Transeamus usque Bethlehem! (1)

War ich ergriffen, als ich nach Eisersdorf an der Biele kam, das heute Zselezno (stimmhaft gesprochen, ist das "Schelesno") geheißen wird? Es liegt in einer unglaublich üppig wirkenden, tiefgrünen, aber nicht sehr gepflegten Senke nahe Glatz an der (kleinen, der Grafschafter) Neiße, das in selber Transponierung Klotzko (sprich hier "Gwotzko") genannt wird.

Ich war viel nüchterner, fast kalt im Inneren, als ich im Sommer 2016 vor der schlichten und in seinen Anfängen weil vom Baukorpus her erkennbar gotischen, nun in frischem Geld des Spätbarocks gehüllten Dorfkirche stand. Die ich von den Erzählungen der Mutter her inhaltlich, von alten kleinen Schwarz-Weiß-Photographien (mit diesem ausgefransten Rand, Sie kennen das) kennen sollte. Aber wie anders wirkte nun alles. 

Auf den Bildern hatte sie nie so wenig barockisiert gewirkt. Diese Neigung zum Kitsch, die auf die heutigen Menschen hatte warten müssen, war typisch. Und erst im späten 18. Jahrhundert über das Alte gelegt worden, als der olle Fritz den bekannt starrköpfigen Glatzern den Glauben lassen mußte. Wofür er ihnen aber protestantische Adelsherren samt deren protestantischer, in ihren Landschlößchen aber renaissance-andächtigen Architektur vorsetzte. Die in ihrem aufklärerischen Ruf in Wahrheit den Ton des Kitsches überall hintrug und in die Landschaften brachte. Die an vielen Stellen in der gesamten Grafschaft aber noch den österreichisch-jesuitischen Stil unterm Teppich vorlugen lassen. Schon gar in den bekannteren Kirchen und Gebäuden, wie dem "Schlesischen Jerusalem" oder dem Glatzer Jesuitenkolleg, die man fett übermalt, um mit ihnen endlich einen anderen Tourismus als den der "Heimatsucher" aufzubauen. Und manche Straßenzüge von Glatz behaupten von sich eine Wichtigkeit, die sogar größer als das spätgotische, schlesisch verspielte Rathaus, weil sie renaissance-römischer sind - eben jesuitisch-barock - als die Via del Corso

Während doch alles auf einem unterirdischen Gangsystem sitzt, das so weitgespannt ist, daß es die ganze Innenstadt einsturzgefährdet gemacht hatte, kaum waren die alten Herren vertrieben, und die neuen eingezogen. Seltsamer Zusammenfall, nicht wahr? Aber waren nicht die Gänge das, was immer und über alle Zeiten bleiben sollte, mit denen sich die Bürger schon vor den Tataren, dann den Hussiten, dann vor den Pruzzen und gleich drauf vor Napoleon und wer weiß vor wem noch schützen wollten. Mit knapper Not, aber viel Sachverstand haben oberschlesische Bergleute die Stollen gestützt, sodaß man sie heute gefahrlos durchwandern kann. Aber in den Häusern darüber, also in der eigentlichen Stadt, darf nicht ein Geschoß noch, nicht ein weiterer Anbau angefügt werden. Es könnte zur Katastrophe kommen.

Sichtbar und unantastbar-fest blieb nur, was kämpfen wollte und sollte, und in den für die Größe der Stadt weit überdimensionierten Festungsanlagen, die steil über der Stadt aufragen auch nie besiegt worden ist. Vieles ist renoviert, vieles erneuert, noch mehr aber noch nicht. Wie sollen fünf Jahrzehnte Ausplünderung, Zehren von der Substanz je noch eingeholt werden.

Man kann die Farbe auch hier fast noch riechen, denn wie überall in der Grafschaft wird auch die Kirchenanlage in Eisersdorf saniert. Wie vor 200 Jahren muß auch heute, für die nächsten neuen Herren und deren Gefolgschaften, alles nützlich und das heißt: noch nützlicher sein. Und aus Nutzen wird eben Kirsch. 

Also werden die Städte zu Museen, an einem bestimmten vorkrieglichen, aber den Touristen-Prospektstandards entsprechenden Stand eingefroren. Und mehr läßt sich mit den EU-Millionen auch nicht anfangen, die dann alle Rechnungen gleichstellen sollen als wäre es Westeuropa gewesen, das der anderen Hälfte, dem Herzen Europas, die Wüsten des Kommunismus übergeschnallt hatte, die heute beseitigt werden sollen. Und dazu meint auch Brüssel, daß es gar keine Menschen bräuchte, das liefe auch nur über Zahlenwerke und Plumpsklotheorien.

Die neuen Herren sollen aber nun endlich angefüttert werden, die Ende 1945 aus dem (dann nicht mehr) altpolnischen Osten hier einlangten, um die Ansässigen zu vertreiben. Zumalen sie ja selbst gemäß der in Jalta gefaßten Beschlüsse der damals noch Trautheit (ein Jahr später plötzlich wieder Todfeind) spielenden alliierten Weltkriegssieger Vertriebene geworden waren. Die man wie alle übrigen 30 Millionen Menschen auch nun "Umgesiedelte" nannte. 

Angesiedelt in Häuser und Dörfer und Städte, die ihnen meist bis heute noch nicht wirklich gehören, stets nur "bewohnt" wurden. Nomaden und Geschichtslose, deren Vergangenheit Tabu, sie also nirgendwo mehr Ansässige werden konnten. Denen die neuen Orte nie zu Orten wurden, mit denen sie mehr verband als die Urkunde, die ihnen die Behörden ausgestellt hatten, und die ihnen die Rechte von Ansäßigen gaben, als die sie sich nun zu gebärden hatten. Mit dem sie alle Gesichter, die da eines Tages vielleicht vor ihrer Türe auftauchten, um sich mit Tränen in den Augen Sätze wie "Hier bin ich geboren," oder "diesen Baum hat noch mein Vater gesetzt" und "dort wurde Angelika getauft" zuzuflüsterten, zudecken konnten, auf daß sie endlich aufhörten, auf sie, die Polzsij, zu starren. Und wenn sie sich gar zu dumm aufführten, konnten die neuen Bewohner ihrer alten Räume halt nicht mal die paar Brocken Deutsch mehr, die sie von den alten Inschriften oder Matrickelbüchern gelernt hatten, die da waren und die man nicht einfach auslöschen konnte. 

Aber mit der Schuld, die sie gerade als Katholiken (und Polen sind per se solche) empfanden, obwohl ihnen doch tausendmal geheißen wurde, daß sie die nicht zu empfinden hatten, wurden die wenigsten fertig. Sie verhielten sich den Dingen folgend, die ihr Leben Tag für Tag vollstellten, wie Diebe. Die bekanntlich keine Ruhe finden und ihr Leben fortan dem Versuch widmen, die Spuren ihrer Tat zu löschen, was aber nie gelingt, weil die nicht mehr da sind, die sie absolvieren könnten, ja mehr noch: Die das nicht einmal wollen und dürfen sollen. Also schweben sie über dem Ort, der ihnen nun "gehört", und wedeln mit dem Schuldschein der von ihnen Vertriebenen, der ihrer Tat Rechtfertigung verleihen soll.

Wie das alles hier weitergehen wird? Denn die Jungen, die heute hier leben, sind schon ein noch weiter ganz anderer Schlag. Der nicht nach dem Vergangenen schaut, das ist nur als Touristenattraktion was wert, wenn überhaupt, sondern der nach dem Westen, dem transatlantischen Westen starrt, und gut Englisch, aber kein Wort Deutsch versteht. Genau so wenig wie das Russische. Das muß vor zwanzig Jahren noch anders gewesen sein, erzählte mir eine Ur-Glatzerin im Hotel, die heute in Braunschweig wohnt, aber jedes Jahr für einen Urlaub in ihre alte Heimat kommt. Da habe man noch sehr viel deutsch gesprochen, und sich überhaupt enorm um die vormaligen Glatzer bemüht. Heute kommt aber das Geld von woanders, da braucht man die Vertriebenen nicht mehr, denen man dafür sogar noch etwas an der Heimat abtreten muß, denen man aber vor allem dieses seltsame Unsicherheitsgefühl verdankt, man könnte das Haus wieder verlieren, das man bewohnt. 

Morgen Teil 2) Die Zeit heilt keine Wunden. Sie läßt sie sogar erst aufbrechen weil sie jeden Versuch, Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit zu schaffen, als das ausblühen läßt, was es ist. 





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(re. 241221)