Es ist ganz gewiß kein Zufall, daß die Berufe des Regisseurs und des Architekten keinesfalls alt, sondern kaum mehr als hundert, zweihundert Jahre sind. Im Zerfall des Ganzen, in der Disparatheit der Weltanschauungen, der Individualisierung der Menschen, weil mehr und mehr der kulturell-charakterlichen Prägungen (nicht zufällig entstanden auch die ersten "Pädagogiken"), im Zerbrechen der Autoritäten, die ein Ganzes noch gewährleisten, wuchs die Angst um das Ganze, und das führte zu Personen, die sich dieses Ganzen anzunehmen hatten.
Oder dies vorgaben. Die Hinweise auf die Machtfunktion der "Wahrer des Ganzen" - als Letztentscheider, Kopf, Vorgeber und Schrittmacher - und somit als freigewählte, funktionalisierte Autorität scheint höchst zeitgemäß.
Noch bei Goethe war es selbstverständlich, daß der Autor die Interpretation festgeschrieben hatte, und der Baumeister war noch vor einhundert Jahren selbstverständlich auch Architekt, ja diese beiden Funktionen waren jahrtausendelang unmöglich zu trennen.
Auf ihre Art sind beide zu Regisseuren geworden. Und ihr Auftreten, ihr Vorhandensein alleine schon degradiert jeden der übrigen Teilnehmer am Ganzen zur Funktion. Was als temporäre Zeiterfordernis noch nichts darüber aussagt, ob sie nicht notwendig wären. In jedem Fall aber beschleunigen sie den Verfall des Ganzen, weil sie von den Teilen die ihnen innewohnende, natürliche Integrationskraft abzustreifen verlangen. Wirklicher Ethos - bei Regisseur wie Architekt - ist selten.
Regisseure im Machtrausch aber, für die jeder Schauspieler, ja jeder Mensch, der zum Gesamtwerk beiträgt, nur noch technische Funktionen sind, die sie beizusteuern haben, (scheinbar und suggeriert) ersetzbar, weil eine Funktion Depersonalisiertheit sogar benötigt, sind heute der Normalfall.
Wie der Architekt stehen sie unter ungeheurem Rechtfertigungsdruck, und um diese Rechtfertigung (bewußt), diese Daseinsberechtigung zu liefern (weshalb das Zusammenspiel mit ihrem Brötchengeber von großer Wichtigkeit ist - was jener verlangt, werden diese liefern), gepaart mit Zuchtlosigkeit (die den Vertrauensverlust in die Wirklichkeit, das Sein, mit sich zieht, nur noch eine Welt der Selbstvergewisserung und des Diktats der Betitelung akzeptiert - scheinbar, denn jeder unterliegt den Gesetzen der Mühle des Seins), bleibt ihnen kaum eine andere Wahl als alle Beteiligten zu entmenschen.
Während ihnen für ein eigenes Werk die wirkliche Schaffenskraft fehlt, was sie meist mit noch mehr Ingrimm (auch und vor allem den Autoren gegenüber) erfüllt. DAS ist der wahre Tod des Theaters. Völlig gleichgültig, welcher weltanschaulichen Orientierung - in diesem Punkt sind sie sich alle nämlich gleich: Sie schaffen ein Theater frei von Künstlern, aber voll mit Simulanten und "Menschenmaterial".
Valerie Martens schreibt in ihren Memoiren sehr richtig, wie einfach es ist, einem Werk etwas hinzuzufügen. So einfach, daß es den Regisseur (den sie als Musterbeispiel anführt) allzu rasch dazu verleitet, eine Inszenierung mit Ideen "anzureichern". So einfach aber auch, daß der Unterschied zwischen dem schwierigen und wirklichen künstlerischen Akt, ein Werk, ein Stück zu schreiben, überhaupt einmal ein Ganzes zu schaffen, und der Possenhaftigkeit, diesem etwas hinzuzufügen, meist verschwimmt.
Der Künstler zeigt sich nicht in "Einfällen", sondern in der Gesamtidee.
*030309*