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Sonntag, 28. Februar 2010

Vom Wesen des Prophetischen

Als der in Bad Freienwalde (im Oderbruch; Nähe Berlin) im Jahre 1909 geborene jüdische Arzt und Schriftsteller Hans Keilson im Juni 1933 mit seiner Frau, einer begabten Graphologin, eine Ausstellung in Berlin besucht, gehen sie unter anderem an einer Vitrine vorbei, in der sich ein Schriftstück befindet, das Adolf Hitler eigenhändig geschrieben hatte. Da faßt sie ihn am Arm, und flüstert ihm zu: "Der zündet die Welt an!"

Keilson wandert 1936, nachdem er sowohl als Arzt wie als Schriftsteller - als letzter jüdischer Schriftsteller, den der Fischer-Verlag noch verlegt hatte - Berufsverbot erhalten hatte, nach den Niederlanden aus, wo er halb illegal als Arzt und Kinderpsychologe arbeiten und leben kann, ehe er 1940 in den Untergrund abtaucht. Fast zufällig, so erzählt er im Radio anläßlich eines Interviews zum 100. Geburtstag 2009, sei er im Gymnasium in Bad Freienwalde zur Literatur gekommen.

Als sein allererstes Gedicht, die er als Romancier zu seiner eigenen Überraschung, wie er erzählt, in Holland begonnen habe zu schreiben, zitiert er folgende Verse:


Wir Juden

Wir Juden sind auf dieser Welt
Ein schmutz'ger Haufen billiges Geld
Von Gott längst abgewertet.
Er zieht uns nicht aus dem Verkehr.
Er wirft uns weg, er ruft uns her,
Wir zahlen alle Schulden.
So wandern wir im Kreis herum
Von Hand zu Hand, den Buckel krumm,
Uns reibt kein Putztuch helle.

Wo wären wir, wo wär die Welt,
Führt sie ihr Leben ohne Geld
Wer zahlte ihre Schulden?!
Drum braucht sie uns noch lange Zeit.
Doch sie wird rot, wenn ein Jud schreit:
Die Welt hat mich geschlagen! -
Ich werd's dem Gott schon sagen!



Als ich dieses Gedicht - eines Juden - hörte, da begriff ich, ahnend, wieder ein wenig mehr, was es meint, wenn man sagt, daß kein Dichter sei, der nicht seinem Volk, wie seines Volkes Prophet ist - Stimme der Wahrheit, die Gott ist. Welche Selbstaussage auch als Volk, aus dessen Mitte der Erlöser stammt, welch Selbstbegreifen ...

Vielleicht nicht beim ersten, vielleicht aber beim zweiten Lesen versteht man plötzlich viel vom Christentum. Den Hinweis, daß Jesus Jude war, braucht es da wohl nicht mehr.

Aber wer hört? Wer sieht? Sie haben Augen - sehen aber nicht. Ohren, hören aber nicht.




Wie alles kam (7)

Was sich in der Nachkriegszeit Österreichs abspielte und wahrlich nicht bei Null begann, ist natürlich keineswegs einmalig in der Geschichte - weder des Landes, wie überhaupt. Und ehe wir mit dem rein "historischen Faktenläufen" (wie schwer es da wird, die Begriffe zu wählen, wenn man einmal begriffen hat, daß es immer um eine einzige Gegenwart von Antrieben, Motiven, und Freiheit geht, deren Höhe erst überhaupt eine Aussage zulässig macht), dem Ablauf der (immer ausgewählten, als geschichtsmächtig angesehenen) Geschehnisse in Österreich fortsetzen, die uns auf einen bestimmten Punkt bringen sollen, der etwa in den mittleren 1970er Jahren liegt, ab dem eine Entwicklung eine Reife gewonnen hatte, die die folgenden Jahren nur noch zur Folgetragung machten, weil wirklicher Entscheidungsraum, auch durch die Menschen, die nun "geformt" waren, kaum mehr existierte, ehe wir also mit dem "Fortgang der Dinge" weitertun, wollen wir neuerlich etwas einschieben.

Das uns helfen soll, das, was da geschieht, noch besser begreifen und einordnen zu können. Denn wozu sonst sollten wir es tun? Erst damit können wir für unser Hier und Jetzt gewinnen, weil wir seine Genese verstehen, ja aus der Geschichte überhaupt erst dieses Heute erkennen!

Es soll in diesem Schritt also weiter Luft geholt, sollen Daten zu Fakten, und sei es unbewußt, geadelt werden oder werden können und dem geneigten Leser nicht vorenthalten bleiben, was Joachim Fernau zur "goldenen" Zeit sagt - und zwar jener der rund dreißig Jahre der Regierungszeit des Perikles im "demokratischen" Athen (ab ca. 460 v. Chr.) sagt. Die man gerne als die wirklich große Zeit der Griechen, in Wohlstand und Glück, darstellt.

Die Töne freilich, mit denen diese Epoche kommentiert wird, sind zu dieser Vergoldung denn doch deutliche ... wie sagt man? Konnotationen?

[Perikles'] Geist war geformt, aber nicht befruchtet; sein Herz weit, aber ohne Sehnsucht. Er hatte Temperatur, die die Menge zu allen Zeiten als warm und der wirklich Warmherzige als lau empfindet. Seiner musischen Natur verdanken wir die Schätze Athens - dennoch war diese Natur ohne Feuer. Er erwärmte sich an der Kunst, aber er brannte nie. Er war nie ganz im Himmel. Er besaß einfach ein glückliches Naturell und eine glückliche Hand.

Interessant wird es nun, wenn man die Charakterisierung seiner Regierungszeit liest - Ähnlichkeiten und Anspielungen auf Lebende oder Gelebt-Habende und Bestehendes keineswegs zufällig und unabsichtlich. Es war eine Zeit, in der die (zufließenden, nicht die erarbeiteten!) Geldmittel schier unerschöpflich waren, der Anteil der vom Staat Gestützten oder Bezahlten stieg und stieg.

Wohl, so Fernau, habe man den einzelnen Menschen so vorgefunden, wie man ihn aus Väterzeiten kannte, "überall begegneten einem die Männer alten Schlages, der eine ein Solon, der andere ein Mensch wie Aristides, dieser Geflügelhändler ein wahrer Odysseus, jener ein Schuster, ein Megakles, eine Menge fröhlicher Theatraliker, liebenswerter Flunkerer gegenüber dem Leben, Bummler, Gaffe, Schwätzer, Komödianten ... So waren sie als Einzelne."

Aber es war wie ein Auftrieb aus früheren Wurzeln, Frucht anderer Zeiten! Denn: als Masse hatten sich die Athener längst verändert. Früher war man eine Art Burggemeinschaft gewesen, ein stabiles Gefüge; jetzt war man eine Großstadt, mit einem riesigen Proletariat, labil, unüberschaubar, anonym. Wo einst der Schuster in der Gasse gesessen und die Sandalen des Herrn Kleophanes [...] genäht hatte, da saßen jetzt zehn Gesellen wie an einem Fließband; der eine schnitt nur noch die Sohlen zu, der andere die Riemen, der dritte nähte, der vierte färbte [...] Den Schuh hatte "niemand" gemacht, so wie nun die Politik "niemand" gemacht hatte. Und keiner erfuhr je, wer den Schuh trug. Man lieferte dem Meister kein Werk mehr, man liefert ihm Arbeitsstunden. [...] Niemand liebte mehr die Arbeit, [sondern alle leisteten ihren Job:] man empfing seinen Lohn und ging.

Wenn sich früher der Färbergeselle zum Panathenaia-Fest herausputzte, so wollte er die Göttin ehren und das Bild der Straße verschönern. Wenn er es jetzt tat, so wollte er Mimikri treiben; er rechnete mit seiner Anonymität in der Masse und wollte für einen anderen genommen werden. Er sah mit Kopfschütteln auf die [...] Sklaven herab, [wenn sie abends singend in die Weingärten zogen] während er selbst ein anderer Mensch wurde und durch die Barbierstuben und Parfümerien schlenderte. [...]

Er sah, daß die Dinge nicht mehr fest standen, sondern im Fließen waren; er sah, wie das Leben jetzt Lotterie spielte; bald vergaß er, daß es eines Einsatzes bedurfte, er glaubte, das Los müsse jeden treffen. Aus der Hoffnung wurde eine stumme Forderung; aus der stummen eine laute. Der Mann aus dem Volke war unzufrieden geworden!

Athen war voller Unzufriedenheit. Niemand aus der Masse besann sich mehr auf die Vergangenheit, ja auch nur auf das Gestern. Rückständige taten das, Reaktionäre. Man mußte sie belächeln, besser: hassen. Gesteigerte Zuversicht in den nächsten Tag, das war die neue Lebenskunst.

[...] Alle quatschten in die Politik hinein, heute fällten sie eine gefährliche Entscheidung, morgen stießen sie sie um, übermorgen hatten sie die Lust verloren [...] Wenn das Geld knapp wurde, forderte man höhere Löhne. [Erstmals gab es "Streiks"!]
Perikles führte für alle, die in den Ausschüssen oder Räten [saßen] "Tagegelder", Diäten ein, die zum Leben ausreichten. Infolgedessen drängte sich ein riesiger Haufen von Eckenstehern und Tagedieben zum "Regieren", eine Ansammlung von finsterstem Plebs.

[...] Wer da noch arbeiten wollte? Fremde und Sklaven. Über den [Hafen] wurde herangekarrt, was gebraucht wurde.
Die Staatsausgaben übertrafen längst die Einnahmen. War es nicht einfach? War es nicht eine Lust zu leben? Wer an das große Erwachen glaubt, war ein Faschist oder Kommunist.

Und all die herrlichen Kunstwerke aus dieser Zeit? Fernau: Ich pfeife auf alle Herrlichkeiten aus Marmor, wenn sie zu Grabbeilagen eines Volkes werden! [...] Das Gejohle, das Lachen der Masse, die Lust an der sausenden Talfahrt [...] sind ein scheußlicher Anblick.Alle aber klammern sich umso mehr an das Zauberwort - den Fortschritt. Der Wahn vom "Fortschritt" ist, philosophisch gesehen, ein Denkzwang, der aus einer seelischen Erkrankung kommt. Er tritt epidemisch auf, und zwar immer dann, wenn die Lebenskraft eines Volkes sich zu erschöpfen beginnt. Man findet ihn bei jedem Kulturkreis, jedem Folk, jeder Rasse. [Die Gehirne der Massenmenschen] verkraften ihr plötzliches Empfinden für große Dimensionen, für Weite, Zeit und Entwicklung nicht; sie verlieren den Halt, sie verlieren das, woran sie sich halten konnten, sie werden haltlos. Sie haben den Sinn im Kleinen verloren, und sehen keinen im Größeren.

Der wahre Inhalt des Fortschritts ist Wechsel. Mit Qualitätssteigerung hat er nichts zu tun [...] Auch ein im Kreise drehen wird von der erkrankten Seele durchaus als Fortschritt empfunden [...] Die kranke Seele konsumiert die Bewegung, den Wechsel wie eine Droge! Zustände, die zuvor von Dauer waren und auch von Dauer sein sollten, werden jetzt am laufenden Band "verbraucht". Der Fortschrittler ist - vergessen Sie diesen Satz nie mehr - ein Verbraucher!

Und damit sind wir bei einer entscheidenden Erkenntnis: Fortschritt ist Umsatz. Und zwar nicht etwa "eine Art Umsatz", sondern er ist das Prinzip des Umsatzes schlechthin. Genauso wie beim Kaufmann. Es ist identisch mit dem merkantilen Begriff.

Daher ist die Wirtschaft auch der "Mäzen" des Fortschritts. (Und der Todfeind des biblischen Paradieses.) Mit einer Fortschrittsepidemie geht stets eine Wirtschaftsepidemie parallel.
Und selbstverständlich war das fortschrittliche Athen stolz darauf! Ja: Im Zustand des Fortschrittswahns wird die Menschenseele tyrannisch. Sie verlangt, daß sich ihr jedermann im Fortschrittsglauben anschließt. Obwohl sie kein Heil weiß, gebärdet sie sich als Heilskünder.

Weshalb Athen alle, Freunde wie Feinde, aufforderte, dieselbe Verfassung, dieselbe Lebensform, dieselbe Wirtschaft anzunehmen; daß es die nicht Folgsamen zuerst als rückständig belächelte, dann anprangerte, und schließlich bekämpfte.

[...] Es war nichts als die Angst vor dem Alleinstehen, der angstvolle Wunsch der wurzellos gewordenen Massenseele nach Bestätigung. Vielleicht mehr: der Wunsch, Vergleichsmöglichkeiten zu vernichten. In solchen Wünschen leben heute ganze Erdteile. Allerdings ohne Parthenon.
Sie wollen wissen, wie es damals weiterging? In Athen? Es stürzte unmittelbar nach Perikles, nach diesem "goldenen Zeitalter" des Wohlstands, in einen schier endlosen, sinnlosen, verwirrenden 30jährigen Bürgerkrieg mit dem großen zweiten Spieler auf der griechischen Halbinsel, Sparta, jeweils samt Verbündeten, an dessen Ende auch das Ende des "großen" Griechenland stand. Bis es von den Römern aufgesogen wurde, und schließlich weitgehend - über Byzanz und die Türken - von der Bildfläche verschwand. Das "goldene Zeitalter" war ... das Vorspiel zum Ende gewesen.

Als Perikles erst zurücktrat und dann, als Legende seiner selbst sich selbst überlebend weil zurückgeholt, endgültig starb, stellte man fest: es gab keinen annähernd gleichwertigen Nachfolger von Format! Fernau dazu: Alte despotische Naturen fühlen sich unter Nullen wohl.Natürlich gab es dann einen Nachfolger, und zwar "einen aus dem Volke" - das in Kleon erstmals in Reinkultur auftrat! Freilich verhöhnte man seine Einfachheit, schimpfte man ihn "Demagogen". Aber war das so? "Kleon trug vollkommen ehrlich seine eigenen niederen Regungen vor, sie deckten sich mit denen der Masse. Er hielt sie auch nicht für niedrig, er hielt sie für prima. Daher sein Mut zur Konsequenz. Er war brutal, undiszipliniert [...] aber so ist eben die Masse: Sie reißt sich nur zusammen, wenn etwas weh tut.

Kleon,
schließt Fernau, war ein Prolet. Er war die Quittung für die Nullen, die ein alter Mann, der zu lange und zu monoton regiert hatte, hinterließ.



Zitate entnommen aus: Joachim Fernau "Rosen für Apoll - Die Geschichte der Griechen"




Samstag, 27. Februar 2010

Suche nach Gott

Ich habe lange darüber nachgedacht, was hinter dem Umstand stecken könnte, daß vielfach dem heutigen Menschen - allen lautstarken Beteuerungen und Hinweisen auf die großartigen Wissenschaften, auf deren Boden man sich angeblich befände, zum Trotz - eine rationale, eine verstehbare Welt so überaus zuwider scheint. Man kann meist geradezu warten darauf, daß, nachdem das Gegenüber sich in mühsamen Diskussionen auf Vernunft, Wissenschaft und Verstand bezogen hat, sein Gesicht mit einem Male aufleuchtet, und er Neuigkeiten aus der Welt des Tischerlrückens, Pendelns, oder eines Yogi verbreitet und mit bislang brachliegenden Fähigkeiten des Menschen zu Überirdischem und -sinnlichem "erklärt". Gerade also in einer Welt, die behauptet alles restlos aufklären zu können, braucht es offenbar einen Ausweg, eine Fluchttür. Wissenschaftlich freilich abgesichert, denn auch das nicht Erklärbare wird ja irgendwann wissenschaftlich geadelt, also lassen wir es durchaus gelten ...

Wo immer sich sonst klare Sinnzusammenhänge über das Weltgeschehen zeigen, unter einfacher Berufung auf die sens ratio, den gemeinen Hausverstand, stößt man aber auf Ablehnung. Wer heute dummerweise nicht in der fatalen Lage ist, an der Sinnlosigkeit der Welt zu zerbrechen, wird meist sogar als irrelevant, seine Geschichten, die ihm Welt abbilden als konstruiert, deren Motive als vordergründig abqualifiziert. Dabei sind sie genau das nicht, ja genau das Gegenteil ... sie sind nur eines: erhellend. Weil sich nämlich das Leben selbst regelrecht auflöst in ganz bestimmte Grundbewegungen, die in den jeweiligen Menschen nie wiederholend variieren. Das Leben ergibt letztlich, schon gar in seinen großen Verläufen, immer eine einfache, ja geradezu simple Geschichte - und ist doch so unergründlich. Heute denkt man es ja genau umgekehrt.

So wird eben Irrationales gewählt, verlangt, und zur "Tiefe" um- und mißdeutet - dabei besteht ein fundamentaler Unterschied, ja verhält es sich geradezu diametral: Denn das letztlich Unerklärbare der Welt bedeutet keineswegs, daß sie in ihren undurchdringlichen Erscheinungen (denn alles Ganze, und alles was etwas ist, ist ein Ganzes, ist ein Geheimnis, und sein Entstehen ist ein solches) zufällig oder irrational ist! Genau darauf aber, genau darauf zielt die heutige Sucht nach Irrationalität. (Sieht man davon ab, daß sie dem Dummen willkommener Fluchtweg ist, was alle Tendenz natürlich verstärkt.)

Gilbert K. Chesterton, dessen Lektüre häufig wie ein frisch durchblutender Kopfstand wirkt und das Beobachten von Kindern, die die Augen schlossen und sich durch den Raum tasteten, brachte mich auf die Spur: Es hat mit der Suche nach Gott zu tun.

Denn das ist zum einen ganz gewiß darin begründbar, daß eine verstehbare, also eine deutbare Welt auch Anforderungen stellt, denen nicht zu entfliehen ist: Sie ist ein Aufruf an unsere Verantwortung, und sie ist es immer in unserem nächsten Umfeld. (Denn gegen Metatheorien besteht ja kein Einwand, im Gegenteil - sie werden gesucht: Da interessiert, ob United Fruit die Bananenbauern in Ecuador trietzt oder ein Tsunami in Japan aufgrund von Ölbohrungen im Marianengraben entstand, oder - das kann doch sowieso niemand nachprüfen! - ob und warum die Nesselqualle ein direkter Vorfahre der Kuduwanze ist.) Verstehbare Welt bedeutet auch Mühe, die Mühe der Reflexion bedeutet Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen, den ständigen Versuchen sich zu überrumpeln ... und hier haben wir das Stichwort!

Denn es hat diese Suche nach dem Irrationalen, diese Sucht nachgerade (Horrorfilme prosperieren!), noch einen anderen, und ganz entscheidenden Grund, der durch den Lärm der Ablehnung gerne verborgen bleibt. Und das soll auch so sein, denn ...

... die Suche nach dem Irrationalen ist ... eine direkte Suche nach dem Erlebnis Gott, nach Gott überhaupt - und sei es ein Ersatz. Denn der Mensch sucht nie Gott. Der Mensch sucht das Mysterium - das ist zutiefst menschlich. Der Rest ist Interpretation, auf der Basis von Offenbarung.

Denn erst, wenn sich der Mensch in einer Umgebung findet, die ihm völlig unbekannt ist, kann er sich von sich selbst (!) lösen, und muß das ihm Zustoßende nicht mehr auf ein längst bekanntes mechanisches Weltgeschehen oder den Zorn des Herrn Tröltsch zurückführen, sondern ... dann erst gerät er in Kontakt mit einem Mysterium!

Inmitten einer Welt, die ihm nunmehr zustößt, die er nicht mehr zu ordnen, nicht mehr zu beantworten hat, die ihm völliges Mysterium bleibt und dies bleiben darf, erfährt er am deutlichsten, so hofft er, Gott, den Ursprung allen Weltgeschehens.

Es ist ja mehr als auffällig, daß gerade diejenigen, die am meisten auf dem Postulat der Wissenschaftlichkeit beharren, in zentralen Fragen des Lebens - oft auf unfaßlich plumpe Weise! - das wirrste Zeug glauben und annehmen, und häufig einen direkten Zug zu Horror, Esoterik, Psychotechniken, Verschwörungstheorien, Marsmenschentheorien, fremdartigen Religionen mit rein mythologischen Weltbildern, völlig unsinnigen Weltentstehungsgeschichten denen sogar die künstlerische Qualität der Mythen fehlt, weil sie in technische Vorgänge aufgelöst sind (genau so läßt sich erklären, daß der Aberglaube der Evolutionstheorien - wären sie wenigstens das: Theorien! - sich so derartig verbreitet hat) und was auch immer haben.

Der Irrationalismus ist somit die Abenteuerlust der Gegenwart. Er ist der letzte Kick des Lebens, nachdem alles bereits bekannt und gekannt ist, der diesem Leben noch irgendetwas abgewinnen soll. Er ist die Droge einer technizistischen Zeit. Er ersetzt daß die Kirche überhaupt kein Mysterium mehr anbieten möchte, sondern gerade denselben Fehler gemacht hat wie ihn alle machen - stattdessen alle ihre Güter in Rationalität und zwischenmenschlicher Technik versucht hat aufzulösen.

Und wir stellen im Irrationalismus die Welt wieder auf Distanz, wir lassen sie uns (scheinbar wieder zustoßen. Denn der Begriff Gott hat nun einmal mit Unvorhersehbarkeit und Willkür und Macht zu tun.

Der Irrationalismus ist somit die synthetische Herstellung einer damit wieder wunderbaren Welt, die Psychotechnik des Mysteriums, er ist die herbeimasturbierte Pseudo-Gotteserfahrung, er ist ein jeweils (oder, im Irrsinn, zur Haltung gewordener) zu setzender menschlicher Akt: das Aussteigen aus der Welt.

Es ist der Gestus der Gegenwart. Als Aussteigen, das Entfliehen aus der ersten wirklichen Gotteserfahrung, die uns ab ovo zugängig ist: dem Hineingeworfenwerden in eine konkrete Umwelt, in eine konkrete Familie, in konkrete Lebensumstände - denn dort ist tatsächlich alles Abenteuer, und uns von Gott unbegründbar zugestoßen. Denn die Familie ist das größte Mysterium, und es begrüßt uns gleich beim Eingang zur Welt.

Deshalb hängt Gottlosigkeit (keineswegs in moralisierendem Sinne gemeint!) immer auch mit Boden- und Wurzellosigkeit zusammen.

Und es ist logisch, daß Irrationalität zur Zwangsvorschrift einer Gesellschaft im Absturz wird.

Und es ist nur noch logischer, daß genau das von der Kunst, von den Machthabern verlangt wird, soll sie (materiell) überleben können. Denn nichts würde das heutige System mehr in Frage stellen und umwälzen, als die simple Nachricht: Stell Dir vor, es gibt doch einen Sinn, den es zu erfüllen gilt ...



Bilder Nebel 1 & 2, © Mario Lehwald



Angstliteratur

Man kann die engagierte Literatur, die ideologisch und moralistisch ausgerichtete Literatur auf einen simplen Tugendfehler beim Literaten reduzieren: Der Angst hat, daß sich herausstellen könnte, er habe nichts zu erzählen. Der Angst hat, er könnte zu wenig sein für die Aufgabe, die er einzig in seinem Leben sieht. Und hier wird er unglaublich rasch konventionell, langweilig und unkünstlerisch, und rechtfertigt dies mit moralischer Notwendigkeit - mit Seelsorge ...

Er vertraut sich nicht. Und vielleicht hat er nur Angst vor der Bescheidung, die Werk immer bedeutet: Man wird schwer in seinem Glauben geprüft und nie kann man sich den Weg der Selbstläuterung ersparen.

Also meint er, einen Inhalt explizit machen zu müssen. Und sein Werk wird Predigt. Also meint er, sich figürlich einbinden zu müssen, um etwas wert zu sein.

Das dachte ich mir nach dem Anhören eines Interviews mit Josef Haslinger im Radio. Wo er unter anderem eine nette Anekdote erzählte: Er sei mit Peter Turrini unterwegs gewesen, und habe diesem erzählt, daß er in seiner Kindheit Pfarrer werden habe wollen. Der habe ihn daraufhin angeschaut, ein paar Sekunden nachgedacht, und dann gesagt: "Bist es eh' geworden."

Zur Schreibakademie Leipzig, an der er unterrichtet, sagte er einen interessanten Satz: Er meinte, daß eines der Kriterien, die zeigten, ob jemand literarisch tiefergehende Ambition und vor allem Talent habe, sei, daß er in seinem Schreiben das Klischee, das einfache Verwenden von Überkommenem, die Konvention zu vermeiden suche, ja: "Schon, daß er das überhaupt erkennt, zeigt sein Talent an."

Das Wesentliche am Künstler ist ganz sicher, daß er schaffen will - und man schafft nicht, wenn man nur das Äußere nachbildet, nur funktioniert. Jeder Künstler zeigt sich deshalb darin, daß er mit Vorhandenem zu spielen beginnt, was nur geht, wenn er es beherrscht.

Weshalb, so Haslinger, auch ein Kriterium sei, ob der Aufnahmekandidat (jährlich gibt es davon sechshundert, aufgenommen werden zwanzig) ... viel lese.

Wie wirklichen Genies übrigens, die, so Haslinger, die würden ohnehin nie so eine Akademie betreten. Na, dann besteht ja für viele noch Hoffnung.



Freitag, 26. Februar 2010

Unberechenbares Leben

Je entwirklichter die Menschen denken, und das heißt, je mehr sie in Vorstellungen von etwas verhangen sind, und das heißt wiederum, je mehr sie ihre Ansichten von der Wirklichkeit nach gesollten, nicht nach wirklich selbst gedachten, selbst rückgefolgerten Plausibilitäten formieren, sondern vorwiegend aus Reaktionen zusammenklittern, die verbergen sollen, daß sie diese Erfahrung nicht wirklich einzuschätzen vermögen, umso mehr klammern sie sich an diese Vorstellungsbilder.

Und umso weniger Raum hat damit auch die Wirklichkeit selbst.

Auch und vor allem in der Kunst. Ja, gerade dort, wo man nämlich sagen könnte, daß der originäre Blick des Künstlers praktisch immer an der Vorstellungswelt der Menschen scheitert.

Weil man den Eindruck gewinnt, daß (natürlich keineswegs unbekannte) Vorstellungen, aufgespießt am Spickbord zu sollender Gefühle, Reaktionen, Wirkungen, keinen Blick für Originäres mehr zulassen. Damit, darauf läuft es ja hinaus, ersoffen in Konventionalitätsräuschen sind.

So reagieren dann die Betrachter, so agieren dann die Darbietenden.

Am verräterischsten also für das Fehlen der Erfahrung und wirklicher eigener Gedanken zu einem Thema - sagen wir: Tod, sagen wir: Vergewaltigung, sagen wir: Liebe, sagen wir: Haß, sagen wir: Mord, sagen wir: ... - und für diese Ertränktheit in Konvention ist also, der Wirklichkeit (eines Kunstwerkes, zum Beispiel) bestimmte (inhaltliche) Reaktionen abzuverlangen. Dann hat man es mit Schauspielern zu tun, die meinen, eine vergewaltigte Frau habe in pathetischen Wahnsinn auszubrechen, mit Regisseuren, die behaupten, Liebe sei nur mit schwulstig aufgewölbten Schmachtlippen spielbar, und mit Kuratoren bei Förderstellen, die meinen, Tod habe sich tieftragisch, äußerlich breit, und von Beethovens 5. untermalt, abzuspielen, sonst sei er nicht ausreichend gewürdigt.

Aber Vergewaltigungen spielen sich meist sogar ziemlich "unscheinbar" ab und in Wahnsinn bricht meist niemand aus, es sei denn, er hat ausreichend Zeitungsmeldungen gelesen, die ihm nun nahelegen, möglichst in Hysterie zu verfallen. Liebe hat so unendlich viele Formen, daß sie gerade oft in Zusammenhang mit scheinbarer Reaktionslosigkeit die tiefste Gestalt annimmt. Und Tod ist ein Faktum, das gerade dem am "leichtesten" fällt, der am meisten damit zu tun hat - denn große Menschen sterben leicht, und gehen sehr "natürlich" mit dem Tod um. Nur lächerliche Menschen, wie sie heute natürlich häufig sind, machen daraus ein Theater. Und Diktatur ist nicht die massenhafte und deutlich sichtbare Marionettenproduktion, das sieht man erst wenn man ihr eben nicht zugehört, sondern gerade in ihren wirksamsten Formen eine subtile seelische Zwangslage, die in ihrer Äußerlichkeit eben genau mit der Erfüllung von Konventionen das Gute betreffend täuscht.

Das sieht in der Praxis dann so aus, daß bestimmte Arten und Weisen gefordert und geliefert werden, mit denen explizit gemacht werden soll, was aber doch immer nur ... implizit darstellbar ist!

(Das erinnert mich - zur Illustration - an einen Streit, den ich mit einem Fernsehredakteur hatte, der in einem von mir verfaßten Drehbuch, bei dem auch die Geschichte von mir stammte, eine bestimmte Gegebenheit, nämlich den möglichen Mißbrauch des Mädchens, um das es ging, wörtlich ausgedrückt verlangte. Aber, so meine Reaktion, sie haben doch erkannt, daß es so ist? Beziehungsweise wahrscheinlich so ist? Erzählt es so nicht viel viel mehr, wo es sich der Zuschauer im Kopf bildet, und daß es so ist, haben ja Sie bewiesen? Also: IST es nicht erzählt? Nein, so seine Antwort, er verlange, daß das definitiv zur Sprache komme, und eine entsprechende Reaktion der Umgebung erfolge ... Aha, eine entsprechende Reaktion der Umgebung auch noch ... der muß also ein Problem haben, daß er befürchtet, seine sittlich einwandfreie Haltung würde nicht deutlich genug erkennbar sein? Warum möchte das jemand? Ich habe sehr bald wieder aufgehört, für diese Produktionsfirma zu schreiben.)

Solche faktischen Realitäten, solche Erwartungen und Forderungen aber, mit denen man zunehmend konfrontiert ist, gerade, wenn man nicht der Konvention folgt, wie Konventionslosigkeit auszusehen habe, was meist nichts als eine sogar betonharte Konvention ist, machen die Kunst heute brotlos und scheinbar chancenlos, weil ihre Distributeure, ihre Auftraggeber, ihre Akteure, meist nichts anderes verlangen und zulassen und nicht mehr wagen, als genau die Erfüllung dieser Konvention.

Und so hat auch diese Zeit ihre unerträglich dummen Moden, mit denen sie glaubt, die Probleme der Gegenwart erfaßt zu haben. Dann müssen Jugendliche so und so sein, müssen die Menschen so und so reagieren, müssen sie vor allem aber eines: nicht mehr frei handeln.

Vor allem aber herrscht heute die unerträglich dumme Mode, das Leben selbst "ernst" zu nehmen. Nämlich ernster, als es ist. Oder richtiger: an der falschen Stelle ernst. Denn ein ernster Umstand ist meist sehr demütig-unscheinbar. Kein Trommelwirbel, kein einfahrender Blitz - einfach so und so. Man darf sich also fragen, welche Art Mensch sich an die einzelnen Erscheinungen des Lebens so klammert, daß sie nicht immanent wirken, sondern explizit ihr Schild aufdrängen, was sie zu sein hätten. (Entsprechend "moralisch", ja: Moralpropagandistisch sind ja auch heute die meisten Filme.)

Aber das Leben ist nie auslotbar ... und es kann manchmal "kitschiger" sein als der kitschigste Film. Es ist (in den menschlichen Handlungen) nämlich alles andere als "adäquat".

Es ist aber immer motiviert. Und diese Motivation aber, die ist nicht nur jedem unwiederholbar eigen, die ist ja das Rätselhafte am Menschen. Und Kunst ist nicht deshalb Kunst, weil sie eine bestimmte Wahrheit darstellt, die ohnehin jedem klar ist, sondern weil es das Leben von einem unwiederholbaren Standpunkt aus darstellt und damit etwas sichtbar macht, weil beleuchtet, das höchst individuell ist. Sondern diese Motivation ist meist ein gar nicht sichtbares, nur ahnbares Gefährt, das im Hintergrund schiebt, aber immer fühlbarer wird, bis es - und das heißt Drama - am Schluß erst ihr Gesicht zeigt, so daß es der Zuschauer in sich erfaßt, und zwar wieder vielleicht nur: indirekt. Gleichgültig, ob es auch nur irgendjemand sagt, oder, und das sind meist die besten Dramen, nur in sich schweigend, weil unnennbar, erwägt.




Kopfschütteln ... wieder: Berlin

Berlin wäre nicht Berlin, wenn es nicht Berlin wäre - von Politically Incorrect übernehme ich diese Meldung, weil sie einen nur noch fragen läßt, wie weit die Groteske noch gehen muß, ehe sie auffällt:

In einer zu den Freien Evangelischen Schulen zählenden Grundschule in Berlin-Hellersdorf, die Kooperationspartner der christlichen Jugendeinrichtung „Die Arche“ ist, hat doch tatsächlich ein Lehrer versucht, Kindern das Unrecht von Abtreibungen näher zu bringen. Die Schulleitung ist empört und distanzierte sich umgehend von dem Lehrer, der Gott sei Dank nur ein Vertretungslehrer ist und den man deshalb nicht fristlos zu feuern braucht.Und der "seriöse" Tagesspiegel schreibt dazu:
Ein Lehrer der Hellersdorfer Arche-Grundschule hat offenbar versucht, seine Schüler gegen Abtreibungen aufzubringen. Mit Arbeitsblättern, die den Ablauf einer Abtreibung in drastischer Form beschreiben, sollten sich die Kinder mit den Details des Eingriffs auseinandersetzen. Die Schule hat sich inzwischen von dem Lehrer distanziert. Ihr droht ein Imageschaden, weil das Material publik geworden ist: Jugendstadträtin Manuela Schmidt (Linke) hatte die Blätter zugespielt bekommen und weitergereicht.

Nach Angaben von Schulleiter René Schlüter handelte es sich um einen Pädagogen, der bis Dezember für ein halbes Jahr als Vertretungslehrer eingesetzt war. „Wenn er noch bei uns wäre, würden wir ihn jetzt fristlos entlassen“, stellte Schlüter am Dienstag klar. „Wir sind traurig und ärgerlich und verurteilen das Vorgehen des Lehrers.“ In dem Papier ist davon die Rede, daß „Kinder in Stücke zerlegt“ werden, damit sie beim Absaugen durch den Schlauch passen. Zuerst würden Arme und Beine „vom Körper getrennt“, dann der „Rumpf vom Kopf“. Da der Kopf zu groß sei, müsse der Arzt ihn zerkleinern. Weiter steht dort, dass der „zerfetzte Körper“ zum „Verbrennungsofen“ gegeben werde. Im Text fehlen Wörter, die von den Fünftklässlern einzusetzen waren. Die Senatsverwaltung für Bildung zeigte sich entsetzt über das Material. „Die Schule muß in Zukunft noch genauer hinsehen,“ forderte der Sprecher von Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD), Jens Stiller.

Die Schule ist Kooperationspartner der christlichen Jugendeinrichtung „Die Arche“ und gehört zur Freien Evangelischen Schule. Deren Geschäftsführer hatte sich am 16. Februar bereits gegenüber der Schulaufsicht von dem Vorfall distanziert.





Im Maserati zur Notschlafstelle

Der Spiegel berichtet von der sogenannten "Maserati-Affaire" in Berlin: Der Geschäftsführer einer Berliner Obdachlosen-Hilfsorganisation, der "Treberhilfe", hat als Dienstwagen einen (bildhübschen) Maserati gefahren! Das war nach einer Polizei-Radarkontrolle publik geworden, weil der Wagen geblitzt wurde.

Der Sache wurde nachgegangen. Und so wurde bekannt, daß die Gesellschaft, mit einem gemeinnützigen Verein als Träger, jährlich auch noch "Überschüsse" von 600.000 € "erwirtschaftet" ... Das ließe auf unsoziale Arbeitsbedingungen schließen, meinten dazu die Gesellschafter, man werde auch das also prüfen, denn irgendwo müsse das Geld ja herkommen.

Der Geschäftsführer sah das erst nicht ein und beharrte auf dem standesgemäßen Gefährt. Vielleicht weil er immerhin ein florierendes Unternehmen aus der Klitsche gemacht hatte, wie die Zahlen bewiesen? Nach ernsten Worten der Vereinsführung wollte er den Dienstwagen für Touristenreisen zu Sozialeinrichtungen Berlins (!) nützen.

Aber schließlich zog er das Angebot nach weiteren und medialen Empörungen zurück, immerhin finanziert sich das Unternehmen ja aus öffentlichen Geldern und Spenden, und verzichtet zukünftig schweren Herzens auf diesen Wagen.

Er steht nun zum Verkauf.

Besonders interessant dabei: die Polizei verzichtete auf die Einhebung der Strafe wegen Schnellfahrens. Das sei bei Mitarbeitern gemeinnütziger Vereine, im Dienst, üblich, immerhin dienten diese ja in hoher Selbstlosigkeit einem guten Zweck ...




Blendwerk "engagierte Kunst"

Es gibt sie nicht nur selten, sie sind fast die Regel, und es war vielleicht nie anders - in der Kunstbranche Tätige (hier definiert das Wort "Künstler" gar nichts, ist hier lediglich unabgrenzbare Teilmenge der Genannten) die großmundig in ihren Werken für ein "humanes Anliegen" eintreten. Die nicht müde werden, moralisch explizit zu wirken, und in allen Stellungnahmen ihr Anliegen - ach wie selbstlos - in den Vordergrund schieben:

Die Schlechtigkeit der Menschen (mit, natürlich, dem koketten Hinweis, daß man ja selber auch nicht anders sei, oder auch so sein könnte), des Landes, der Kirche, der Institutionen, der Politiker, der Unternehmer, der Künstler ... bloßstellen, und so weiter, und so fort.

Was, unter uns gesagt, sollte leichter sein? Eines ist nämlich gewiß: daß jeder seine Schlechtigkeiten, Verführbarkeiten, Anfälligkeiten, Schwächen hat. Deshalb ist es schlicht und fast immer nur banal zu beweisen, daß "auch ein Gott beim Scheißen stinkt" (Zitat aus "Der Odysseus", von E. Wagner - man will ja nicht Plagiator seiner selbst sein).

Und alle in der Kunstbranche Tätigen haben sie auch. Darauf hinzuweisen heißt also nur, daß sie damit einen lediglich eleganten, aber in Wahrheit stinkfeigen Weg der Unangreifbarkeit gerade dessen gehen, was sie als ihr Werk ausgeben. Und das sie möglicherweise ... nur als Vehikel benützen. Das (siehe andere Repliken an dieser Stelle) nur so aussehen muß wie ein Kunstwerk, solange es eine moralische Botschaft verkündet, und das um "Erfolg" zu haben lediglich genug Leute braucht, die (auch aus schlechtem Gewissen vielleicht) so tun als wäre es das, wofür es sich ausgibt. Und deren gibt und gab es ja beileibe immer genug.

Jede Kritik an ihrem Werk aber - sofern sich eine solche überhaupt noch zu erheben wagt - verschwimmt perfiderweise augenblicklich und ununterscheidbar zur Gegenposition zu ihren (in ihren Augen) unanfechtbaren moralischen Forderungen. Und sind diese gar nicht unanfechtbar, so erst recht. Dann sind sie sogar noch zufrieden in ihrem Ego, in ihrer Identität gefestigt, weil sie eine Diskussion angezettelt, ein Thema aufgegriffen haben, das ja (für die anderen) so wichtig ist, und so weiter, und so fort. Wie das Künstler ja so zu tun hätten.

In jedem Fall sind sie (meinen sie) aus dem Schneider - sie stehen in einer win-win-Situation, schon gar öffentlichen Stellen (weil Geldgebern) gegenüber, die - weil hierzulande alles politisch durchwirkt ist - sich gerne und natürlicherweise jedes ihre Politik unterstützenden Windes dankbarst erfreuen.

In jedem Fall ist gerechtfertigt auf jene zu schimpfen, die das Stück, das Werk, kritisieren. Und in jedem Fall - so erscheint es zuweilen - haben sie sich für etwas eingesetzt.

Das es ... vielleicht gar nicht lohnt, auch nicht in ihren Augen. Was sie wissen: denn erst jetzt, und umso mehr stärkt die entgegenbrandende Entrüstung ihre Identität, als Künstler wahrhaft am Pult der Zeit zu lauschen, wofür die Entrüstung beredtes Zeugnis ablegt. Ein Künstler muß auch aufregen können.

Sie irren. Sie irren selbst dort, wo sie meinen zu meinen (sic!), daß genau das gemeint sei, wenn man von "Aussage" spricht, die ein Künstler zu haben habe, sonst sei er keiner: eine moralische Ermahnung. Eine Aussage zur Zeit. Wie der Philosoph, oder der Prophet verkündet, oder wie sie jedes Kunstwerk (sonst ist es keines) - im Dargestellten immanent, indirekt enthält, so daß sogar eine explizite Aussage zur indirekten wird (ich weiß, kompliziert genug ...), was aber nur das Publikum, wenn das Werk gut ist, in sich, als Antwort, als Reaktion still oder laut, immer aber frei, formuliert.

Auch und vor allem aber irren sie, weil sie sich etwas gar nicht vorstellen können, nein, wollen, denn dann würde es für sie ungemütlich: daß es tatsächlich Menschen gibt, und zwar vor allem auch im Publikum, die sich wirklich nur um die Qualität eines Kunstwerks kümmern, und dazu noch eine gebildete Meinung und Erfahrung haben - während ihnen der Inhalt (fast) egal ist. Weil jeder Inhalt, wenn er in einem guten Kunstwerk aufgegriffen ist, es auch wert ist, betrachtet und erwogen zu werden. Jeder.

Weil es in der Kunst - und wie froh wäre man doch, diesen Begriff endlich von dort "heruntergeholt" zu haben, wohin ihn ein schreckliches, kleinkariertes Bildungsbürgertum geschoben hat - tatsächlich nur um die formale Vollkommenheit geht. Daß Freiheit, Gutheit und Wahrheit in der Kunst eine solche FÜR die Wahrheit der Form (und nicht eine von ihr) ist - und damit zur Schönheit (und auch nicht zur Hübschheit, und auch nicht zur "Ästhetik") verschmilzt.

Bei allen, die in der Kunstbranche arbeiten. In jeder Sparte.




Parameter sinnvollen Freiheitsentzugs

Wahrscheinlich Dr. Josef Goebbels schrieb 1930 in einem von der historischen Wissenschaft kaum rezipierten, weil ob seiner Urheberschaft strittigen Artikel ("Utilitarismus und unsere Bewegung") im "Hochberliner Achtelsblatt" folgende Sätze:

"In Zeiten der Krise zählt nicht mehr die Integrität der einzelnen Teile eines Organismus. Vielmehr zeigt uns die Natur, daß nur noch jene Eigenschaften der Organe eines Ganzen zum Tragen kommen und abrufbar sein müssen, die einem einzigen Ziele - der Beseitigung der Lebensgefahr - dienen.

Entsprechend muß ein Volkskörper sich Mitleid verbieten, das er sich in Notzeiten nicht leisten kann, weil ihm Ballastexistenzen jene Lebenskraft abziehen, die er an der Front, dem Entscheidungspunkt seiner Existenz, benötigt. Es mag in Friedenszeiten, in Zeiten der Üppigkeiten, ausreichend Raum für solchen Luxus der mitmenschlichen Werte wie Barmherzigkeit und Liebe geben. 

Aber die große, alles umfassende Liebe fordert eine Situation, in der es um das Überleben aller geht, das nur im Organismus des Ganzen möglich ist, herrisch ihr Recht, und sie verlangt die Unterordnung geringerer Interessen, des Einzelnen, auch wenn es ihn das Leben kostet. 

Es muß deshalb verlangt werden können, wenn ein Staat, wie es heute der Fall ist, um seine Existenz ringt, belastende Existenzen selbst ihre Eliminierung betreiben. Wir haben keinen Platz für halbe, Viertel- oder Achtelkräfte, wie der Humanwissenschaftler Karl Binding es ausdrückt. Es braucht auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen, um diesen menschlichen Hülsen eine Erlösung von ihrem Leiden, das sie für ein Volk sind zu ermöglichen. Denn unser Volk braucht das Ganze, oder es wird im Kampf ums Überleben untergehen! Wir dürfen unsere Arbeitskraft, unsere Geduld, unser Vermögen nicht mehr länger verschwenden.

In diesem Sinne muß es der Staat als seinen Auftrag sehen, sich selbst zu reinigen. Ja, jede Familie muß es als Ruf zur Pflicht fühlen, sich vom Ballast zu befreien, um mit von alten bürgerlichen Maßstäben der Schwäche befreitem Herzen und mit ganzer vitaler Kraft dem Staate und ihrem Glücke zu dienen. Denn die Kraft eines Staates steht im Verhältnis zum Glück seiner Menschen!"

Lüdger Beer weist in seiner Schrift "De animae terrorismae" die simple Mechanik auf, die das technische Zeitalter zu einer Apparatur macht, die aber einen identifizierbaren Gesamtzweck benötigt - und den schafft eine Gesamtbedrohung, die die Unterordnung aller Partikularinteressen unter die Interessen des Gesamtüberlebens nötig macht. Kennzeichen eines entuferten Gesellschaftssystems sei es deshalb, daß sich solche Ziele häuften, die eine Bedrohung des Gesamten voraussähen, die die Beseitigung individueller Freiheiten notwendig und vertretbar machten. Während das Bedienpersonal des Technizismus sich aus Spezialanwendern zusammensetzt, zu dem vor allem jene wissenschaftlich vorgebildeten Figuren neigen, die sich in der Technik der Stoffbeherrschung verlieren können.

(Es war auffällig, mit welch biederem Enthusiasmus, zugleich mit welchem moralischen Pathos, die Techniker nationalsozialistischer Eugenik und Euthanasie ihr Handwerk betrieben; während ihre Gewissen durch die "Notwendigkeitssituation" entlastet war, die ihrem Handeln den Charakter einer  Befehlserfüllung gab, sofern dieser nicht ohnehin vorlag.)

Gradmesser der Fortgeschrittenheit solcher Gesellschaften sei, so Beer, die Tatsache, daß je näher solche Systeme dem Kollaps stünden, der Wert der Freiheit diffundiert, für den Einzelnen als Maß politischen Handelns nicht mehr vorhanden und relevant ist. Vielmehr schreite die Vermassung voran, die den Einzelnen von der Pflicht, die Freiheit nämlich in Wahrheit bedeute, enthebe. Der Einzelne fühlt immer deutlicher den Zwang, sich einer Norm anzupassen.

Zugleich werde das Denken, schon gar das der Öffentlichkeit und der Medien, zu einem reinen Mechanismus degradiert, so daß Entscheidungen immer ausschließlicher "nicht anders fallen können", zu simplen mathematischen Ergebnissen führten.

Totalitarismen haben immer also zwei Hebel: den einer zwingenden Moral, der den zweiten Hebel, des notgedrungenen Entscheidens gegen die Freiheit des anderen, nach sich zieht. Und sie sind immer der Verlust des Bewußtseins, daß sich das Leben immer auf Gott bezieht und ein Dialog ist, dessen Wert nicht innerweltlich-technisch beschränkbar ist.

Der politisch entscheidende Punkt dabei aber ist, daß längst zuvor der Humanitätsmaßstab zu einem Zweck- und Nützlichkeitsdenken reduziert wurde.