Kelly faßt in "Die hungernde Herde" die Theorien zahlreicher und renommierter Kulturphilosophen und Kultursoziologen der letzten Jahrhunderte zusammen: Alle sind der Auffassung, daß sich die abendländische Kultur in ihrer letzten Zerfallsphase befindet.
Die Merkmale solchen kulturellen Verfalls sind zusammengefaßt bei allen (als gemeinsamer Nenner von Spengler über Toynbee zu Berdjajew, Sorokin, etc. etc.):
- Verweltlichung der Kunst, der Ethik und des Rechts sowie
der allgemeinen Haltung
- Verfall der schöpferischen Intuition zugunsten des
technischen Raffinements, das die geniale Leistung ersetzt
- Quantität ersetzt Qualität
- Familie und körperschaftliche Beziehungen treten zurück,
Vertragsverhältnisse ersetzen sie
- Ausübung von Zwang gegen den Einzelnen wird
vorherrschend
- Emporwachsen von Riesenstädten, in welchen sich entwurzelte anonyme Massen fluktuierender
Individuen ohne Eigentum und Tradition bilden
- Vernichtung der schöpferischen Minoritäten des Mittelstands durch verantwortungslose Neureiche
und Diktatoren
Übereinstimmend (!) heißt es bei sämtlichen Kulturphilosophen auch, daß diese letzte Phase zunächst durch einen Versuch religiöser Erneuerung verschleiert wird (Spengler: "Zweite Religiosität"; Toynbee "Universalkirche"; Berdjajews "kommende neu-mittelalterliche Kultur", Schubarts "messianischer Prototyp"; ich füge hinzu: "Erneuerungsbewegungen"; "Die Kirche der Zukunft wird mystisch sein, oder sie wird nicht mehr sein"; "Neues Pfingsten"; etc. etc., die meiner Einschätzung nach Religiositätssimulation fordern oder gar sind; Ähnliches gilt natürlich auch u. a. für die Esoterik)
ALLE sind der Meinung, daß keine rein rationale oder empirische Philosophie, keine utilitaristische Berechnung eine neue Zivilisation oder Kultur schaffen könne. Nur aus echter, intuitiv erlebter Religion sei eine Wiedergeburt zu erwarten, und immer müsse die neue Kultur zuletzt durch die Vereinigung der intuitiven, rationalen und Gefühlswerte ihre Reife erlangen.
Überwiegend werden in den Analysen neue Zentren neuer Kultur prophezeit wie geortet, unter anderem von Rußland ("Zeitalter der Slawen") über Indien oder China.
David Kelly, der nicht an die Schicksalshaftigkeit der Entwicklung einer Kultur glaubt, diese Zyklen-Gläubigkeit für einen der Mythen des 19. und 20. Jahrhunderts hält, schrieb sein Buch 1955.
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