Martin Mosebach schreibt in einem Nachwort zu Erzählungen von Eduard von Kayserling, daß dessen Prosa in ihrer melancholischen Grundstimmung die Wahrnehmung belegt, daß bereits 20 Jahre vor dem gerne als die große Umwälzung einer zuvor noch traditionell ständisch geordneten Welt - mit einer entsprechenden Rolle des Adels - bezeichneten Ersten Weltkrieg das nicht verhinderbare Verschwinden dieser Welt festgestellt wurde. Was Mosebach freilich nur andeutet ist, daß dies handfeste wirtschaftliche Gründe hatte.
Damit ist die Entwicklung im 19. Jhd. direkt mit der Entwicklung im späten Mittelalter vergleichbar. Beide Epochen waren gekennzeichnet von einem Aufbrechen der lokalen Märkte hin zu internationalen, ja weltumspannenden Märkten. In beiden Epochen begann der Transport eine neue Rolle auszuspielen. In beiden Epochen lösten sich soziale Sichten auf, und begann sich eine neue Art des Wirtschaftens zu etablieren. Man könnte sie zwar als die arbeitsteilige Industrie bezeichen, aber das würde dieser Stufe einer an sich noch gesunden Kulturentwicklungen Unrecht tun.
Es war nicht die Arbeitsteiligkeit, die alles so zerstörerisch umwälzte. Es war in beiden Fällen ein zum Technizismus umgemodelte, ja vergewaltigte immer mehr nur noch rationalistische Verständnis menschlichen Tuns und Wirkens. Entwicklungen, die deshalb zuerst immer von den Skrupelloseren, den Wurzellosen getragen wurden. Und worin deshalb Kulturfremde und Entwurzelte oder genuin Wurzellose - Syrer, Venezianer, unbeschäftigte hoflose Bauern und Juden im Mittelalter, Juden, hoflose Bauern und Amerikaner im 19. Jhd. eben die entsheidende Rolle spielten.
Ein Faktor aber wird gerne dabei vergessen, und das ist der des Idealismus. Das ist der Faktor der univeralistischen (nicht: universalen!) Ideen. In denen nach aufklärerisch-rationalistischer Weise keine Universalie, die also dem Menschsein sowieso zugrundeliegt, die also immer ihre Realität fordert, sondern eine zur Universalie hochgestupfte, im Grunde willkürliche Idee (die ein rational scheinbar auch funktionierendes Ganzes, aber eben so, wie man es sich vorstellte, bewirken sollte) zur entscheidenden Leitlinie menschlichen und politischen Handelns erklärt wurde.
So begannen die in der von der menschlichen Möglichkeit des Selbstseins (als Mit-Sein mit dem Sein, das aber in unserem Willen liegt!) besoffenen Renaissance erstmals so dominierenden Gedanken einer "Volkswirtschaft", eienr "Weltwirtschaft", von "Märkten" und "Staaten" und "Politik" ... jeweils als Verdinglichungen von Abstrakta ihr Eigenleben zu führen. Versimpelt: Ab hier war das Blau des Wassers nicht mehr Ergebnis des Wasserseins, sondern eine für sich stehende Eigenschaft, ind er das Wasser auch blau zu färben war, um "dasselbe" zu sein.
Und so brach im Zuge des Auseinanderfallens alter und (jawohl ...) natürlicher, gesunder sozialer Gefüge im 19. Jhd. - mit der entsprechenden Rolle Napoleons für ganz Europa - auch das Wirtschaften um. Der entscheidende Impuls dazu ging es nicht zufällig von Amerika aus, der "Heimat" der Wurzellosen (von der sich so viele, die es als Hort der Freiheit vermutet hatten, wieder angewidert abwandten; das erzählt meist niemand, aber man etwa muß nur Kafka lesen, und Mahler hören). Das diese Wurzellosigkeit sogar zum Programm gemacht hatte.
So gingen die USA daran, ihr Land nur noch unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, es über Funktionsoptimierung und technische Ressourcenausnützung wie eine Zitrone auszupresssen. Technik wurde nru noch als Ablaufoptimierung verstanden, einen ethischen Aspekt hatte dieses Land, das v. a. im Norden von protestantisch-puritanischem Geist geprägt war, nicht. Was mit dem speziellen Verhältnis des Protestantismus zur Schöpfung, zu den Dingen also zu tun hat. Denn für ihn ist die Welt defintiv von Gott getrennt, hat sie also in sich keinen Auftrag für den Menschen, ist nur die Bühne, die Spielfläche für ihn, für sich aber bedeutungslos und damit beliebig "verwendbar". (Während die Schöpfung dem Katholiken ja Selbsterzählung Gottes, die Natur als das Wesen aller Dinge Gottes damit Auftrag und Wille, ihre Erkenntnis Teilhabe am Wissen Gottes bedeutet.)
So wurde in den USA vor allem die Produktion von Lebensmitteln zuerst revolutioniert - also: vertechnisiert - und im Zuge dessen technisch perfektioniert. Es ging nun um ganz andere Dinge: um "Kilo Fleisch", um "Tonnen Weizen", um "subjektive Bedürfnisbefriedigung" als vorgebliche Grundlage von Nachfrage. Und was ist ein Bedürfnis? Was ist ein Produkt? Im aufklärerischen Sinn ist das klar: es ist das, was wir rational davon begreifen. Fleisch ist zur Hungerstillung. Weizen ebenso. Ein Schuh muß diese und jene (reduzierte, von Maschinen bewältigbare) Eigenschaften haben, dann ist er (auch) ein Schuh. So entstand die amerikanische Massenproduktion, die von Anfang an auf der Suche nach Absatzmärkten war.
Die einen Grundsatz hat, den jeder Verkaufsprofi gut kennt: Der Kunde wird auf einen Sekundärnutzen gelenkt, er kauft Sekundärnutzen, weil er vom Produkt selbst die bekannten Eigenschaften sowieso voraussetzt. Interessanterweise sind es ja genau diese nebeneigenschaften, oft sogar Kleinigkeiten, die als Mängel und damit als "neuer Bedarf" aufsteigen, denn das Negative, das Fehlende ist es, das rationalisiert wird. Die Produkte des 19. Jhds. begannen also, Nebeneffekte zu Haupteffekten zu verklären, und veränderten gravierend die Haupteffekte. Billige Produkte erfüllen nämlich so gut wie immer nur noch rudimentär Produkthauptqualitäten - und dafür umso vordergründiger Nebenqualitäten. Der Produktenmarkt des 19. Jhds. ist also eine Herstellerdomäne der nicht mehr Verorteten, die verkünden und glauben, daß es bei Produkten um rationalisiert-summarische Eigenschaften geht, nicht um ontische Beziehungen.
Damit begann sich Stück für Stück umzudefinieren, was die jweiligen Produkte überhaupt seien. Daß der Weizen je nach Boden, je nach Landstrich, je nach Gut sogar anders schmeckte, und schon gar jenen, die nicht im Anbaugebiet beheimatet waren (denn jede Pflanze enthält jene Aromen und Stoffe und Dynamismen, die einer Landschaft und damit deren Menschen entsprechen; internationaler Handel bringt also automatisch eine Entwurzelung weil "beziehungsentbundene Neutralisierung" z. B. des Geschmacks), daß ein Gutsbesitzer und Landwirt ganz andere Qualitäten in seinen Produkten wecken konnte, wenn auch je nur in begrenzten Mengen, und noch dazu abhängig von vielen äußeren Umständen wie der Witterung, daß ein Produkt im letzten also immer der Gnade eines Unbeherrschbaren ausgeliefert war, wurde zum Nachteil. Der technische Fortschritt erlaubte die völlige Unabhängigkeit der Produktion, die immer noch eine Art "abstraktes Ding" herstellen konnte. Das mit vielen technischen Zusätzen und Kniffen mit vordergründigen Eigenschaften versehen werden konnte, die allfällige Nachteile gegenüber handwerklich und lokalbezogen hergestellten Produkten zugunsten neuer Vorteile - Preis, Geschwindigkeit und jederzeitige Verfügbarkeit etc. - aufwogen.
Man mußte nur die Menschen davon überzeugen, daß diese Vorteile ihnen gestatten, ihr ganzes Leben auf neue Weise auszubauen und zu führen. Und zwar auch dies - unter technischer Betrachtungsweise. Dafür fanden sie in den (eigentlich: in spiralig-progressiver Weise selbst produzierten) Massen der Entwurzelten eine aufnahmebereite Schichte, die mit jedem Zuspruch noch weiter wuchs, aus Eigendynamik heraus. Dann kamen die Verkehrsmittel, die Dampfschiffe, die in wenigen Wochen Euorpa und Amerika zusammenbanden. Dann die Kühlschiffe, die Europa erstmals mit Massen- und Dosenfleisch versorgten. Die Industrieprodukte, die die europäischen Manufakturen unrentabel machten - wenn sie sich nicht den neuen Produtkionsbedingungen unterwarfen. Die Wirtschaft auch Westeuropas, die noch lange Widerstand zu bieten versucht hatte, mußte sich denselben Gesetzen eingliedern, wollte sie nicht untergehen. Und kaum wo in Europa fand diese neue Art zu leben, zu arbeiten, zu produzieren größeren Widerhall als in dem entwurzelten Deutschland, das durch die neue Staatsidee erst recht universalisiert und entwurzelt wurde.
Gleiches geschah also mit der Landwirtschaft, von der der alte Adel, der immer bodenbezogen war, ja das war sogar sein Fundament, seit je lebte. Im späten Mittelalter wurde er in West- und Zentraleuropa ausgehebelt, indem er verarmte, weil das Wirtschaftssystem sich völlig auf Geld umstellte. Über kurze Phasen des (Not-)Raubrittertums wurde der alte Adel weitgehend eliminiert.
Im Baltikum geschah diese Umstellung verspätetet, aber nicht weniger charakteristisch. Darum gab es dort auch nie ein Raubrittertum. Wenn Mosebach also schreibt, daß dies mit der ursprünglichen Prägung vom Deutschritterorden her stamme, der mehr Disziplin gebracht habe als anderswo, muß man ihm also sanft widersprechen. Die Gründe waren naheliegender und handfester, und hatten eher mit dem Rückschlag durch die Zerschlagung der Hanse zu tun, die das Baltikum nach Jahrhunderten der Prosperität (seit Wikingerzeiten sogar) wieder in eine Randlage stellte, als etwa mit mehr Disziplin. Aber auch damit, daß sich dort eine eigene kleine Welt gebildet hatte, mit viel Bezug zu dem von Peter dem Großen neu gebauten Petersburg, vor allem aber mit einem recht eigenständigen Geistesleben.
Die Gutshöfe, die herrschaftlich geführt wurden, und auf denen Geld selten eine Rolle spielte, weil nur selten welches gebraucht wurde, sahen sich nun einer Situation gegenüber, in der ihre Produkte im Westen keine Absatzchancen mehr hatten. Das zu verbessern, hätte zumindest den totalen Umbau der Landwirtschaft nach amerikanischem und zunehmend westeuropäischem Muster verlangt. Zu diesem Kulturbruch aber waren nur die wenigsten Gutsherren bereit. In deren Händen ja über Jahrhunderte auch das Leben von Politik und Verwaltung in diesem Teil des Baltikum (Kurland, Lettland) gelegen hatte - übrigens: als Ehrendienst, nie bezahlt.
Denn zu sehr war ihre Art des Wirtschaftens Element einer umfassenden persönlichen Kultur und Lebensführung, die mit einer technizistischen, rein geldorientierten Produktionsweise und Behandlung des Landes unvereinbar war. Mehr und mehr Güter verarmten, viele verschuldeten sich*, und die jungen, mittlerweile funktionslosen Generationen sahen offenen Auges, daß sie nicht mehr so wie ihre Vorfahren im Baltikum leben konnten - und wanderten zuhauf nach dem Westen aus.
Wo sie dann auf die selben Stimmungen und Verlierergruppen eines geahnten und direkt erlebbaren Zerfalls einer Welt trafen, die sich zugunsten einer Technifizierung des Lebens auflöste. Ihre Erinnerungen, meist getragen von tiefer Melancholie und Trauer, schufen eine ganze Literatur. Eduard von Keyserling ist einer der Proponenten des erstaunlich starken baltischen Genres. Das einmal mehr zeigt, daß die Pulsmesser, die wahren Beobachter von Veränderungen in kulturellen Gebilden immer aus den Randlagen, aus den Lagen der Verlierer sogar, kamen und kommen. Aus den Schichten derer, die alles losgelassen haben, nirgendwo mehr dazugehören, und dem Neuen der Hauptgebilde unverwandt zusehen.
*Dieser Aspekt spielte auch in Deutschland zum Ende des Mittealters eine sehr große Rolle, er wird meist unterschätzt. Aber es war der Adel, der alte Landadel, der in Scharen protestantisch wurde - und damit zeigt, wie tief die sozialpsychologischen Wurzeln des Protestantismus (als "Entwertung der Erde", ein Zug, der sich auch im frühen Islam in historisch sehr ähnlichen Phänomenen zeigt) sind. Auch hier fand ein dem baltischen 19. Jhds. sehr sehr ähnlicher Zusammenbruch einer ganzen und dabei tief kulturell-geistig geprägten Lebenswelt - eines patriarchalichen Landadels - statt. Und wie im Baltikum um 1900 führte dies zu einer Stadtflucht dieses alten Adels, während sich die Landgüter in den Händen der Regierungsnahen (Beamte, Beamtenadel) konzentrierte. Der sich dann - kapitalstark und erst ebenfalls wurzellos weil universalistisch - im 19. Jhd. nun selber nur schwer den amerikanischen Produktionsbedingungen anpassen konnte, weil Wurzeln in einer universalistischen Lebensweise (einer universalistischen Staatsidee) gefaßt hatte, die der neuen Stufe des Wirtschaftstechnizismus wiederum kaum noch anzupassen waren, es sei denn, man schaffte die Wahrung der Nähe zu den (neuen) Regierungen.
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