Die griechisch-abendländische Philosophie ist praktisch zeitgleich mit der indischen und chinesischen entstanden. Aber schon in ihren Anfängen zeigen sich die grundsätzlichen Unterschiede in der Haltung, die Gegensätze, die Georg Misch zusammenfaßt, die auf andere Weise auf Parallelen verweist, zu denen sich aber beide Kulturkreise je anders stellen.
Dem Inder und Chinesen ist die Welt jener Zustand, in dem er vom Ewigen, Alleinen getrennt wird. In der Vielfalt der Welt verliert er sich. Deshalb muß er ihr in den Subjektivismus entfliehen, sein Ziel ist der ewige Schlaf. Der Krieg, der Konflikt des Alltags reißt ihn in eine Wachheit, die ihn von seiner Bestimmung trennt. Nur die Harmonie des Alltäglichen, der Lebenskreise, die Konfliktfreiheit läßt die Erde als Gottes Stätte erscheinen. In China prägt sich das in der besonderen Zuwendung zum gesellschaftlichen Verhalten aus, in Indien in einem Fatalismus der Gesellschaft gegenüber.
Dem Abendländer liegt es genau umgekehrt, und prägt sich zur selben Zeit (um 500 v. Chr.) ganz anders aus. Heraklit sieht den Alltag als den Schlaf, aus dem es zu erwachen gilt. Ihn kennzeichnet die Weltoffenheit, aus der seine Konzeption des Pantheismus erfließt. Das Alleine liegt in den Dingen, sich ihnen zuzuwenden, darauf kommt es also an. Aus dieser Spannung der Dinge zueinander aber ist das All-eine, das alles Umfassende zu gewinnen. Er öffnet also dem Abendland den Weg zur Wissenschaft, zu einer Welt des Kampfes und der Spannung.
Die Welt der Sinne ist ihm dabei zu wenig. Denn nichts täuscht so sehr, wie sinnlicher Eindruck. ER ist es, der verstrickt.
Darin könnte man in gewisser Hinsicht eine Parallele zur indisch-chinesischen Metaphysik finden - die Welt ist Stätte Gottes. Aber Heraklit geht den Weg in das Denken, in den Geist - die asiatischen Konzeptionen ziehen sich zurück ins Innere, das sie ins Alleine hinein, dem Ursprung, auflösen. Dabei würde eine Welt der Disharmonie nur stören.
Für Heraklit liegt dieser Ursprung im Logos, der sich in den Dingen ausspricht, und der ist nicht im sinnlichen Faktischen erschöpft, im Gegenteil, das alles Einende ist das, was den Sinnen nicht zugängig ist. Sondern dem Geist, dem Verstand - dem Sinn (logos). Denn der Sinn ist es, der die Dinge überhaupt Dinge sein läßt, nicht ihre den Sinnen allein zugängige Erscheinung.
Deshalb gilt es, die Bedeutung der Dinge zu erfassen, vom sinnlichen Eindruck zu abstrahieren - durch das Verstehen. Und dazu muß der Mensch hinaustreten, sich verstricken - um dadurch die Eigenschaften der Dinge zu erfahren, und ins Allumfassende zu bergen. Dem der die Bedeutung der Dinge verschlossen bleibt, ist die Welt ein fremdes Land. In dieser Bedeutung, im Logos, im Sinn, dem Weg auf den die Dinge zugehen, erfaßt sich der Kreislauf der Welt, in der sich Gott in sich selbst zurückschließt.
Die Dinge sind beiden Erzählung Gottes, aber den einen in ihrer faktischen Deformation Hindernis, den anderen unter Umständen sogar genau damit Weg. Eine je völlig andere Richtung, eine vor allem aber völlig andere Haltung den Dingen der Welt gegenüber.
Dem Inder ziehen die Dinge ihre eigenen Kreise, ohne miteinander zusammenzustoßen. Harmonie heißt ihm, wenn die Dinge einander nicht stören. Heraklit, dem Abendländer hingegen liegt die Allgemeinheit in der Abstraktion des Besonderen, der Vielfalt, und das alleine, ja genau in der möglichst großen Ausformung dieses Besonderen - im Sein des Seienden also! - umfaßt diese Unterschiedenheit, diese Selbstidentität alles Einzelne.
Alles geht auch ihm also vom Einen aus - aber dieses Eine ist der Endpunkt, das alles Einzelne umfassende, das damit zugleich den Anfangspunkt und Ursprung eröffnet. Das, worein sich der Asiate zu versenken sucht, wozu er der Welt entfliehen muß. Beiden aber ist die Weltseele selbst Gott, die in ihrem Ein- und Ausatmen ("Prana") die ewig gleichen kosmischen Kreisläufe hervorgehen läßt, innerhalb deren sich die Erde mitbewegt. Diese immer selbe Psyche ist allem immanent, auch dem Menschen, der "ist und auch nicht, neu an jedem Tag", als "wir" (Heraklit).* Mensch und Gott stehen sich bei ihm wie den Indern nicht gegenüber - sie sind in ein und derselben Weltseele, dem "Licht des Lichtes", eins. In diesem Pantheismus sind sich Heraklit und die Inder/Chinesen einig.**
Es kommt aber Heraklit nicht auf die sinnlich-oberflächliche Harmonie der Welt der Dinge an (wie dem Asiaten) - ihre Harmonie liegt darüber, in einer Spannung, "wie beim Bogen oder der Leier", und diese Spannung treibt die Dinge hervor. Wie ein Ton, der sich aus ihr löst, als dessen Ausdruck, als wirkende und alles bewegende Kraft, im Handeln und im Kampf. So ist sein Satz zu verstehen: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge."
Das Leben entsteht aus dem Kampf der Gegensätze - aus dem Prozeß der Dialektik. Wo alles Sinnenfällige eine Augenblicksform im ständigen Prozeß des Wandels ist, der Vergehen wie Entstehen in sich schließt. Deshalb bedeutet Denken - Leben. Insofern es die Gegensätze in die Einheit (Synthese) des Denkens führt.
Am Gegensatz zeugt sich alles Leben, aus dem Konflikt Männlich - Weiblich. Das daraus entstehende steht auf dem Boden des Todes der Vorherigen, es "lebt seinen Tod", denn das Werden ist nicht einfach ein unterschiedsloses, graduelles Fließen, sondern ein sprunghaftes Neuentstehen. Das vom Denken übergriffen wird. Das Hinzukommen von Attributen bestimmt nicht das Nomen, sondern es modifiziert es.*** Die Dinge werden zu Symbolen des Transzendenten, das sich im Denken aufschließt.
Morgen Tei 2) Der Heilige wird Aristokrat
*Heraklit geht tatsächlich von einem genuin nicht-personalen, nicht-substantiellen "Ich" aus, er kennt keine Person als für-sich-Bleibendes Wesen des Menschen, sie ist ihm dynamisch. Das was wir mit "ich" bezeichnen ist ihm in ein ständiges Werden und Vergehen eingebettet, weil sich Sein und Nichtsein als Weltphänomen treffen. Die menschliche Seele hebt sich aus dem Welteinen nur durch den (sich steigern vermögenden, ja sollenden - "erkenne dich selbst") Logos heraus, womit Heraklit die menschliche Seele nicht einfach faktisch mit dem Absoluten gleichsetzt, sondern ihr die Entwicklung in dieses All-eine hinein auferlegt - der Grundstein des abendländischen Humanismus.
Anders als die Inder, die diese selbe geheimnisvolle Tiefe der menschlichen Seele mit dem All-einen identifizierten, das sich aber völlig anders (in der Auslöschung des kulturellen Selbst) emaniert. Ein signifikanter Unterschied, der sich in den kulturellen Entwicklungen klar ausdrückt. Denn damit war der abendländische Weg des Individualismus gegen das indische Konzept - unvereinbar, weil einander auslöschend! - gesetzt.
**Und darin unterscheiden sich diese Anschauungen vom Judentum und Christentum, aber auch vom Islam, fundamental. Im strengen Sinn müßte man sagen, daß die heraklit'sche Philosophie ebenso wie die der Inder und Chinesen keinen Gott HAT, auch wenn sie dieses All-eine so bezeichnet (Heraklit identifiziert es sogar als "Zeus"). Der Pantheismus ist seinem Wesen nach nihilistisch, ja man kann, bemessen am Verständnis des Juden- und Christentums (und Islams), gar nicht von Religion sprechen. Daraus aber wird vielleicht ein wenig besser verständlich, wie NEU und anders das durch das Christentum Hereingekommene für die damalige Welt wirklich war.
Es ist also überhaupt kein Zufall, daß mit der Hereinnahme der antiken Philosophie in der Scholastik im 13. Jahrhundert die ursprünglich (könnte man sagen) der gesamten Menschheit nahezu gleichen metaphysischen Anlagen auch zu einer Renaissance des Pantheismus (G. Bruno - Spinoza) als eine darin angelegte Möglichkeit in der Folge einer fehlenden oder mißverstandenen christlichen Aufhellung - die bis hinein in die Metaphysik reicht, diese erst auf ihre realen Schienen stellt - führte. Wenn viele heute der Meinung sind, daß da ja gar keine Unterschiede bestünden, so haben sie den alles entscheidenden Punkt ganz einfach nicht verstanden.
Das ist vergleichbar mit den Tatsachen in der Natur selbst, wo zwar die Lebewesen die anorganische Natur, auf der alle stehen, in sich aufnehmen, aber in diesem Aufnehmen von Grund auf verwandeln. Nur weil im Hund ebenso wie im Menschen oder in der Distel chemisch-analytisch "derselbe" Kohlenstoff enthalten ist, sind nicht alle gleich, sondern haben eine völlig andere Bedeutung und Wirklichkeit, die sich aus ihren empirischen "Bestandteilen" nicht erschließt. Synkretismus und Materialismus sind also ein Wort, sie bedingen einander. Die Esoterik der Gegenwart ist purer Materialismus.
Man kann selbst einen Cusanus oder Meister Eckhart pantheistisch lesen, und der VdZ gesteht, daß ihm das bei letzterem unterlaufen ist. Er hat sich auf dieselbe Weise in bzw. an den Worten gefangen, wie es Pantheisten tun. Bis er ihn neu zu verstehen begann, begriff, daß es auf die reale Position ankommt, in der man steht - auf die fleischliche Realität des Christentums. Und aus ihr hellt er sich völlig - anders auch in den zuvor dunklen Stellen - auf. Er ist KEIN Pantheist.
***Josef König stellt in "Sein und Denken" den Unterschied von modifizierenden zu determinierenden Prädikaten dar: Die sinnlich faßbaren Eigenschaften der Dinge - blau, süß, hart, eben sinnliche Qualitäten, die für alle gleichermaßen feststellbar sind - sind determinierend, während alles, was wir beurteilen, modifiziert: gut, ist, ist nicht, gerecht, schön, gütig, edel. Wir sehen und hören und riechen bei modifizierenden Prädikaten nicht analog zum Sein der Dinge. Uns bleibt nur das "wirken wie", als komplexes Urteil aus dem Sinn heraus. Während wir bei "blau" auf alles blicken, das wir in der Sprache "blau" benennen. Hier wechselt auch in den Sprachen der Welt nur das Wort, nicht der Inhalt. Während sich das Wort im vorgefundenen "Blau sein" also erschöpft, tut es das beim modifizierenden "gerecht (etc.)" nicht.
Diese modifizierenden Worte aber sind es, die das wirkliche Wesen der Dinge, ihren Sinn, ihren Logos beschreiben. Es ist aber der Logos, der die Welt eint, nicht "das Blau". Damit wird auch klar, warum sich im Abendland Philosophie (und Wissenschaft) entwickelte - und nicht in Asien, wo sie in metaphysisch-mythisch/mystisch-theologischen Konzepten oder in reiner Lebenspraxis "der Harmonie willen" (oder in beidem) verlief. (Natürlich immer: grosso modo, von Einzelfällen oder Teilströmungen abgesehen.)
*250513*