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Donnerstag, 16. Mai 2013

Bedingungen der Begabung

Wer etwas verstehen will, muß dieses Jenes, aber noch mehr: Sein Gegenteil zugleich in sich tragen. Denn Bewußtwerdung heißt Abhebung, Entfremdung. Es genügt also nicht, Subjekt zu sein, man braucht zugleich die Objektwerdung, und die ist nur aus dem Gegenteil möglich.

Je begabter ein Mensch deshalb ist, und das sei ausdrücklich von der Talentfrage völlig getrennt, die etwas ganz anderes ist, desto ausgeprägter finden sich in ihm diese Elemente vorhanden. Das heißt nicht weniger als daß der begabte Mensch von einem Extrem ins andere fällt. Und auch hier sei deutlich geschieden von jenen, die Begabung durch Verhalten imitieren.

Wer das Gute darstellen will, muß es erkannt haben. Aber er kann es nur in dem Maß erkennen, als er es aus der Dunkelheit heraus sieht. Daß der Begabte dennoch nicht alle Möglichkeiten, die er in sich trägt, auch tatsächlich ausführt, hängt lediglich damit zusammen, daß er das Gegenteil AUCH ist, auch in sich trägt, in keinem aber erschöpft ist. Der Mörder aus Leidenschaft wird von der Leidenschaft gefangen gehalten, das Mördersein HAT IHN.* Der Begabte trägt dasselbe Mördersein in sich, ja noch reiner, aber ER hat ES.

Aus demselben Begründungskreis erklären sich beim Begabten die Wechsel von Phasen des Schaffens mit solchen der Unfähigkeit dazu. Aber letztere sind notwendige "Zeiten des Sammelns". Nur daraus kann neues Schaffen erwachsen, sofern Talent vorhanden ist.

Wo also ein Wesenszug bewußt wird, so nur deshalb, weil er aus dem Gegenteil heraus erkannt wird: Es findet sich im Begabten als Gegensatzpaar. Weshalb gerade Begabte oft lange brauchen, um eine gewisse Mitte in ihrem Leben zu finden. Denn gerade in ihrer Jugend, in ihrem früheren Lebenswandel, fallen sie rasch von einem Extrem ins andere. Goethe vergleicht einmal das Künstlertum mit einer immer wiederkehrenden Pubertät. In der sich der ganze Mensch jeweils auf einen Bereich wirft, der ihm nun alles ist - um nach bestimmter Zeit das Gegenteil zu sagen. So bildet sich im Begabten das geistige Unterscheidungsvermögen: Aus der Distinktheit der vorhandenen Einzeldinge.

"Je mehr menschliche Typen und deren Gegensätze ein Mensch in seiner Person vereinigt, desto weniger wird ihm, da aus dem Verstehen auch das Bemerken folgt, entgehen, was die Menschen treiben und lassen, desto eher wird er durchschauen, was sie fühlen, denken und eigentlich wollen. Es gibt keinen genialen Menschen, der nicht ein großer Menschenkenner wäre; der bedeutende Mensch blickt einfacheren Menschen oft im ersten Augenblick bis auf den Grund, und ist nicht selten imstande, sie sofort völlig zu charakterisieren." (O. Weininger)

Etwas völlig anderes ist Talent, und übrigens auch Intuition. Jeder hat Talente (und Intuitionen oder Einfälle), und sie werden vererbt (natürlich nicht: Intuitionen ;-), niemand hat sie sich selbst gegeben. Sie sind mal stärker, mal schwächer ausgeprägt. Es ist Begabung ohne viel Talent möglich, Talent braucht aber keine Begabung. Intuitionen und Einfälle fallen ja überhaupt in eine ganz andere Kategorie, und sie sind Teil des Erkennens und Tuns jedes Menschen, kein Merkmal von Begabung.

Der Virtuose, und hat er noch so viele Einfälle und Intuitionen, ist deshalb etwas völlig anderes, als der begabte Künstler (der oft verzweifelt auf Intuition wartet). Diese Dinge zu verwechseln ist ein schrecklicher Irrtum der heutigen Pädagogik, zumal er auf den falschen Umkehrschluß trifft - daß fehlende Personsmitte, Psychopathologie, ein Zeichen für Begabung wäre. Fehlende Personsmitte dahingehend, als es jedem Lebensweg eigen ist (oder: sein sollte), ALLE gegebenen Talente in irgendeiner Form einmal (Kindheit, Jugend; Pubertät) auszuprobieren, denn erst so läßt sich ihr Wert in der Gesamtkomposition eines Menschen erfahren.  Zumal es Talente gibt, die aus verschiedenen Gründen mit einer gewissen Betätigung von selbst vergehen. Fehlt hier - und das ist ein Grundzug der Gegenwart - die Hingabe an das Tun, fehlt also das existentielle Extrem, kann Reifung gar nie eintreten. Ihm fehlt das Entscheidende: die Vorhandenheit der Distinktheit der Einzeldinge. Denn die Empfindsamkeit des Begabten ist nach innen gerichtet, nicht einfach in seiner sinnlichen Ansprechbarkeit zu suchen. Der pathologische Mensch ohne Mitte wird von seinen Sinnesempfindungen beherrscht und fortgezogen.

Gelingt es dem "nur" Talentierten nicht, die Talente in eine Hierarchie, in ein Gleichgewicht zu bringen, unter anderem erkennbar daran, daß er nie Tätigkeiten ablegt, sondern immer "unfertig" vollbringt, wird er deshalb nicht zum Begabten, sondern er verfehlt sich ganz einfach selbst, wird unfähig zur Ausübung seiner maßgebenden Talente. Häufig aus Angst, sich überhaupt auf eine Identität "festzulegen", sich somit immer alle Optionen einfach offenzuhalten, wartet er auf die Fremdbestimmung durch Eindrücke - das in Permanenz empfangsbereite Handtelephon erzählt genau das. 

Das ist etwas völlig anderes als Begabung. Und dieses Wort sei deshalb hier so ausschließlich verwendet, um den "Genie"-Begriff nicht zu strapazieren, der heute überhaupt nicht mehr begriffen, dafür vielfältigst mißbraucht wird.

Aber der Unterschied ist einfach zu bestimmen: Der Talentierte tut, was er tut, um es (oder etwas) in den Augen der anderen zu sein. Das gehört zu seinem Wesen. Ihm ist das Imitieren unerträglich, weil es gegen sein Wesen geht. Das Genie tut es TROTZ der anderen, ihm hat das Tun selbst allen Wert, nicht die Bedeutung in den Augen der anderen. Nur in dieser sozialen, figuralen Nie-Zugehörigkeit vermag er nämlich (siehe oben die Bemerkung zum Gegensatz) die Dinge als Ganzes in sich zu fühlen, und zu gestalten.

Deshalb gibt es keine Spezialgenies - keine "Mathematikgenies" und keine "Schachgenies" und keine "Musikgenies". Und der Geniebegriff ist auch nicht auf die kenntnisreichsten Wissenschaftler***, die immer Fachwissenschaftler sind, anzuwenden. Es gibt NUR Universalgenies. Der geniale Mensch läßt sich definieren, schreibt Otto Weininger deshalb, als jemand, der ALLES weiß, ohne es gelernt zu haben. Womit natürlich nicht die Kenntnis von allen Spezialtheorien und -systemen gemeint ist. Nur erwächst ihm nicht erst aus dem Studium eines Sachgebiets die Kenntnis ihres Wesens, sondern je begabter ein Mensch ist, desto selbständiger denkt er aus sich selbst, je mehr besitzt er nämlich zu den verschiedensten Dingen ein persönliches Verhältnis.

Die Rede von den Spezialgenies verwechselt wieder das Talent mit dem Genie. Deshalb, umgekehrt, waren Beethoven und Goethe in ihrer Weisheit nicht auf ihr Spezialgebiet beschränkt, sondern beide haben dieselbe Weltweite durchmessen, in sich getragen. Während größte Namen oft nicht mehr waren als eben ... Talente, denen aber das Geniale, das Umfassende fehlte. Es gibt vielerlei Talente, aber nur ein Genie. Das ein Talent ergreifen kann, um sich darin besonders auszudrücken, ja, das es aber nicht "ist".

Das Talent ist "Nebensache", und wird meist völlig überschätzt. Aus ihm erwächst nur "Fachkompetenz". Das Genie aber generiert sein universales Bewußtsein selbst, weshalb Genie und Männlichkeit in eins fallen, ersteres aber letzteres voraussetzt, nur in seinem Maß wirklich wird. Denn das Weibliche empfängt sein Bewußtsein. Ein weibliches Zeitalter kann deshalb auch nicht genial sein.

Dieser streng logisch aufgebaute Folgeschluß ist es, der Weininger zum Gottseibeiuns unseres Zeitalters der Muttersöhnchen machte ...




*Damit ist auch alles ausgesagt was es zu Computer und Internet bzw. technischen Abläufen zu sagen gibt. Die in totaler Verkennung als geistige Leistungen gesehen werden - die es in so gut wie allen Fällen aber überhaupt nicht sind: Der typische Programmierer ist von seinen Abläufen beherrscht, sie prägen ihn, nicht er die Abläufe. Bei technischen Dingen, die beim Ausführenden als Bewegten Erlebenswirkungen haben, generell ein Problem. Geniale Leistung mag in der Konzeption möglich sein, in einer Grundidee, die "zufällig" technisch ausgeführt wird, aber sicher nicht im Ablauf.

**Viele Menschen werden ja tatsächlich geplagt von Träumen, diese oder jene Talente hätten ihr Leben zu völlig anderem Ausgang geführt - sie sind häufig aber nur nicht in der Lage das einzuschätzen, oder haben die Erfahrung vergessen, das ist alles. Das tritt vor allem auch in Zusammenhang damit auf, wie das Ausprobieren heute gehandhabt wird: Oberflächlich, als ein Tun unter vielen, vielleicht noch parallel. So, wie Kinder von einem Kurs zum nächsten geschleppt werden, nichts aber ganz machen. Merkmal von Begabung ist die leidenschaftliche, umfassende Vertiefung in etwas - das Extrem. Wer nie etwas extrem macht, hat auch keine Begabung, und für das Talent alleine fehlt die Sittlichkeit, die Tugend.

***Es liegt im Wesen der Wissenschaft, daß im Ergreifen des Berufes des Wissenschaftlers die größte Entsagung liegt: denn sein Forschen geht in diesem einen Strom seiner Wissenschaft auf, das ist ja ihr Wesen. Der Wissenschaftler verzichtet also auf Ewigkeit, sonst kann er gar kein Wissenschaftler sein. Wissenschaft ist immer zeitbezogen und zeitbedingt!


*160513*