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Sonntag, 19. Mai 2013

Von der Würde des Menschen

"Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du die selber wünschst, nach deinem eignen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wird von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer als alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. 

Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.

Welch übergroße Freigebigkeit des Vatergottes, welch übergroßes und bewundernswertes Glück des Menschen, dem gegeben ist zu haben, was er wünscht, und zu sein, was er zu sein verlangt. Die Tiere binden bei ihrer Geburt aus dem Mutterleib (sagt Lucilius) alles mit sich, was sie besitzen werden. Die höchsten Geister sind entweder von Beginn an oder bald darauf gewesen, was sie von Ewigkeit zu Ewigkeit sein werden. 

Dem Menschen hat bei der Geburt der Vater Samen jedweder Art und Keime zu jeder Form von Leben mitgegeben. Die, die jeder pflegt, werden sich entwickeln und ihre Früchte an ihm tragen: Sind sie pflanzlicher Natur, wird er zur Pflanze werden. Sind es Keime der Sinnlichkeit, wird er zum Tiere werden. Sind es Keime der Vernunft, so wird er zum himmlischen Lebewesen werden. Sind es Keime des Geistes, wird er ein Engel sein und Gottes Sohn. Und wenn er unzufrieden ist mit jedem Lose der Geschöpfe und sich zurückzieht in den Mittelpunkt des eigenen einheitlichen Wesens, werde er mit Gott zu einem Geist vereint im einsamen Dunkel des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, alle Geschöpfe übertreffen."


Pico della Mirandola, in "De hominis dignitate"




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