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Donnerstag, 29. Mai 2008

Ein normaler Maientag

Warten Sie, hier habe ich irgendwo noch einen Euro, suchte ich in meiner Brieftasche. Danke, sagte der Antiquar, es paßt schon. Aber wir haben gesagt: elf. Es paßt schon. Er suchte eine Papiertasche, schob mein Buch hinein. Im Hinausgehen sah ich ein Buch, das M noch nicht kannte, eines der schönsten, berührendsten, die ich kenne. Es kostete einen Euro. Ich gab dem Mann die Münze, die ich noch in der Hand hielt.

Am Bahnhofsvorplatz bestellte ich wie so oft schon zuvor ein Paar Würstel. Mein Nachbar zahlte. Danke, sagte er, paßt schon. Der Verkäufer kramte dennoch weiter in seiner Lade, holte eine zwei Euro-Münze, streckte sie in Richtung des Kunden. Es paßt schon, meinte der, wieder, sie können aufrunden. Aber es machte nur drei, sie haben mir einen Fünfer gegeben, sie haben sich geirrt. Ah! Richtig! Danke!

In der Bäckerei nebenan lockte eine Aktion, ich war noch nicht satt, immerhin war es meine erste Mahlzeit am Tage, und es war schon fünf. Ein Apfelstrudel, riesig, um 1,30 Euro. Ich betrat den Laden. Einpacken? Nein, ich esse es gleich hier. Gerade wollte ich hineinbeißen, da kam sie mit einem Teller und einem Sieb, und streute Puderzucker darüber. Schmeckt besser, sagte sie.
In dem Moment betrat der Kebap-Brater vom neben der Bäckerei befindlichen Stand das Geschäft, und stellte einen großen Teller dekorierten Kebaps auf die Theke. Bitte, sagte er. Oh, soviel, sagte sie. Was macht das? Drei. Aber das ist ja viel mehr, das ist ja ... Paßt schon, sagte der Mann, wir sind ja Nachbarn.

In der Buchhandlung, die ich gerade noch vor Ladenschluß erreichte, bat ich das Mädchen an der Kassa, nachzusehen, ob mein bestelltes Buch schon da sei. Ja, es sei schon da. Sie wirkte völlig am Ende mit den Kräften, bemühte sich aber sichtlich, freundlich zu bleiben. Ich machte einen Scherz, das war leicht, wegen der vielen Kunden, die im Geschäft standen. Da lachte sie. Ihr Gesicht entspannte sich. Es sei heute ein so dichter Tag, aber er sei bald vorbei.

Zu Hause meinte M, was denn los gewesen sei, ich wirkte so fröhlich, während sie den Tisch überreich deckte. Das Ei kommt gleich!

Nichts, meinte ich, und setzte mich. Nur ein ganz normaler, sonniger Maientag.



*290508*

Bodensatz der Verdrängungen

Vielleicht vergißt man manchmal, daß das sechste Gebot nur das sechste ist - nicht das erste. Marshall schreibt in "alle Herrlichkeit ist innerlich" sehr treffend, daß das Christentum nicht auf den Bodensatz unterdrückter Verdrängungen reduziert wird.

Dazu läßt er die Figur des Pater Smith - eine seiner zahlreichen wunderschön gezeichneten Priesterfiguren (Bruce Marshall wollte lange Zeit selbst Priester werden ...) - beklagen, daß es eine der verdammenswertesten Verheerungen des Protestantismus sei, die Welt glauben zu machen, daß der Glaube mit dem Verhalten zu tun, daß ein Sünder plötzlich kein Anrecht auf Religion mehr habe.

Wo doch die sakramentale Struktur des Katholizismus die Hoffnung genau auf das Gegenteil ausdrücke und sei: auf die Gnade TROTZ der Sünde, inmitten ihr, als Medizin, die zur Gesundung beitrage - nicht die Gesundung abwarte. Oder flüchtig sei wie das eigene Innenleben.



*290508*

Ironie ist christlich

Ironie ist eine wahrhaft christliche Haltung - sie ist die Antwort auf die Bergpredigt: wenn Dich jemand zwingen will, einen Schritt mit ihm zu machen, geh den ganzen Weg mit. Sie braucht die völlige Sicherheit, daß es nicht simple historische Worte sind, die die Welt tragen, sondern daß die Welt auf Gottes Getriebe aufruht, auf dem Getriebe des Seins, und daß der Schein zum Spiel der Welt dazugehört, nicht mehr: daß man ihn aber nicht fürchten muß. Sie lebt wesentlich aus der Hoffnung auf eine letzthinnige Gerechtigkeit, die historische Faktizität weit übertrifft und eines Tages einzig ausschlaggebend wird.

Aus dieser Furchtlosigkeit, aus diesem Wissen, daß diese Welt vergänglich und kein Wunschkonzert, kein Paradies (weil: noch nicht am Ziel) ist, daß das Kreuz zu ihr untrennbar dazugehört, entsteht die Freigemutheit, der Welt ihren Lauf, dem Narren sein Spiel zu lassen.

Hat die Ironie diese Sicherheit nicht, wird sie entweder Zynismus (der fehlend moniert, was man selbst vorenthält) oder bitterer Sarkasmus - als einer verzweifelten Wahrheit.



 *290508*

Donnerstag, 22. Mai 2008

Der Kunde biedert sich dem Lieferanten an

Was man meist völlig außer acht läßt ist der Umstand, daß sich das Publikum zum Theater und noch mehr zu den Proponenten als Figuren "verhält", was sich im Verhalten deren Werk gegenüber ausdrückt.

Das mag simpel klingen, bis zu dem Punkt wo man gewahr wird, daß in Zeiten der Hollywoodisierung des Erlebens das Publikum sich dem Theater (etc.) bzw. der Sphäre der Kunst und Öffentlichkeit (heute untrennbar ...) ANBIEDERT. Es möchte teilhaben an diesem Leben, diesen Menschen, diesem Lebensfluidum, das für eben dieses Publikum fast ausschließlich aus von den Medien gelieferter Möblage besteht.

Eigentlich grotesk, weil sämtliche vorformulierte Floskeln - zumal in einer Welt des Kapitalismus und des Konsumentenrechts ganz andere Mechanismen suggeriert werden. Aber dies ist Teil dieses Spieles - alle glauben zu machen, es sei so. Und der Beifall des Publikums sei die Reaktion von bedient werdenden Kunden.

Nachgerade umgekehrt nämlich sitzen nur wenige Kunden in den Stühlen der Theater. Deren Beifall Kauf oder Nichtkauf bedeutet, weil sie erst NACH dem Geschehen entscheiden, ob sie die Aussage kaufen. Während die meisten Theaterbesucher schon längst die Ware besitzen, sobald sie das Geld an der Kassa hinterlegt haben, weil das was sie gekauft haben durch Konvention längst geregelt ist.

Sie meinen, ich spräche hier vom bürgerlichen Publikum, wie es gemeiniglich bezeichnet wird, meist mit abfälligem Beiton? Weit gefehlt! Dieses Publikum weiß ja meist, daß sein Theaterbesuch Teil einer Lebenseinrichtung ist, und es ist auf diesem Ruhekissen sogar auch einmal bereit, sich aufbrechen zu lassen.

Das heute bei weitem konventionellste Publikum, die bei weitem konventionellste Szene ist genau jene Szene, die von sich am lautstärksten behauptet, Neues, Avantgarde und aktuelle Kunst zu liefern. Die stärkste und längst alles zu Tode lähmende Konvention des Kunstbetriebes ist die Konvention des Brechens aller Konventionen, weil es zum Selbstzweck, zum Marketingziel geworden ist, anstatt überrascht zur Kenntnis genommene immanente Wirkung der Konzentration auf eine Aussage im Gelingen einer Sache. Dieser ist der Großteil des Publikums längst beigetreten.

Umso eifriger bastelt die Kunstszene an der Unsinkbarkeit ihres Schiffes - das doch längst leckt. Und hat längst "sich" als Ware der Kunst etabliert - anstatt ihr Werk.



*220508*

Biographiemaschinen

Erdrückt von pausenlosen Vorführungen von aus Verkaufsgründen auf Aussagbares "geprüfte" Archetypen, fixiert auf eine Biographie mit medientauglichen Alleinstellungsmerkmalen gestalteter Bilder, meinen viele Menschen, zu leben hieße ebenfalls, eine Biographie zu erzeugen, die sich nach bekannten Drehbuchkriterien entwickle.

Zugleich übernehmen sie gezwungenermaßen die Rolle des Kameramannes und des Regisseurs, des gesamten Filmteams - und überprüfen als Produzenten laufend, ob das Ergebnis mit den Anforderungen übereinstimmt: den Wirkungen, die die Leben der Vorbilder (angeblich!) hervorrufen.

Eine Berlinger Wahrsagerin hat mir einmal in einem Gespräch erzählt, daß es für Sie oft sehr schwer ist, Kundenzufriedenheit zu erzielen, weil sie mit enormen Erwartungen der Menschen konfrontiert ist. Ausnahmslos jeder ihrer Kunden erwarte sich von ihr Schilderungen von (zukünftigen) Geschehen und Ereignissen, die hollywoodtauglichen Maßstäben gerecht würden.

In Wirklichkeit aber sei das Leben nahezu aller Menschen völlig "normal" und den Erwartungsmaßstäben an Bedeutung und Wirkung gegenüber ereignislos, bzw. spiele sich das Leben fast aller Menschen zwischen sehr engen Polen ab. Damit aber würden sich genau ihre Kunden niemals zufriedengeben.

Aber die Menschen werfen ihr Leben lieber weg, als sich dem Wagnis auszuliefern, daß es ist, was es ist, und unter Umständen nicht Oscardimension hat oder überhaupt bekannten Kriterien nach Lorbeeren einheimst. Die Scham, die der heutige Mensch dabei empfindet, denkt er daran, alle Potemkin'schen Dörfer aufzugeben, zeugt davon, daß es immer weniger Menschen gibt, die ihr Leben kraftvoll leben, sondern die stattdessen Biographien für Fernsehanstalten und Video-Verleihe schaffen wollen.

Weshalb jene Geschäftszweige - noch mehr aber zwischenmenschliche Verhaltensweisen - boomen, die es ermöglichen, die Fassadenkonstrukte von Biographien aufrechtzuhalten. Die das Leben so wunderbar beherrschbar und fehlerlos machen.

Es ist kein Zufall, daß die frühen 1970er-Jahre einen bemerkenswerten Zuwachs einer ganz neuen "Menschlichkeit" brachten. Plötzlich gab es neue Kriterien, die das Maß an Wohlverhalten bestimmten: nämlich wieweit jemand bereit war, der Phantasie des anderen, was denn etwas sei, beizutreten. Gut war, was jedermann dazu erklärte - sympathisch, wer ihn egal worin bestätigte.

Was für eine Heuchelei zog da unter der Mogelverpackung, der früheren Heuchelei ein Ende zu bereiten, ein. Wo man sich wechselseitig interessante Biographien vorlog.





*220508*

Montag, 19. Mai 2008

Nie als Dichter gefühlt

"Ich habe mich nie als Dichter gefühlt. Ich bin nur einer, der manchmal Menschliches auszusagen hat und sich dazu jenes Instruments bedient, das er verhältnismäßig am besten beherrscht. Dieses Menschliche gewinnt mir die Menschen; den Literaten, die seiner entraten und auch wieder nur bei Literaten zeitungspapierene Lorbeeren pflücken können, bin ich natürlich odiös. Das muß so sein, das kann gar nicht anders sein."

Anton Wildgans, Brief an Graf Kálnoky; über die Ablehnung, die er regelmäßig in der Fachpresse - im Gegensatz zum Publikum - erfuhr



*190508*

Samstag, 17. Mai 2008

Krocha-ABC

Ein aktuelles ABC der Jugend-Subkultur "Krocha" - Danke, Lederkurt!

Hier die Top 22 der Jugendsprache 2008:


A) Achselmoped - Deoroller (m)

B) Bildungsschuppen - Schule (m)

C) Clerasil-Testgelände - Gesicht mit vielen Pickeln (nt)

D) dönern - eine Blähung haben (vi)

E) Ellies - Eltern (pl)

F) Fünf-Finger-Rabatt - Diebstahl (m)

G) Gedankenmanifestator - Stift (m)

H) Hummeltitten - Gänsehaut (w)

I) Intelligenzallergiker - Dummkopf (m)

J) juckig - Verlangen nach Geschlechtsverkehr haben (adj)

K) Kopfgärtner - Frisör (m)

L) Lungenbrötchen - Zigarette (nt)

M) Murmelschuppen - Kirche (m)

N) Nougatfalte - Poritze (w)

O) one pack - Bierbauch (nt)

P) polen - 1. klauen, stehlen / 2. abschreiben (vi)

R) Rentner-Bravo - Apothekenumschau (w)

S) Speichelhockey - Zungenkuss (nt)

T) Taschendrachen - Feuerzeug (m)

U) uniformierter Bewegungsmelder - Verkehrspolizist (m)

V) vorbeischnicken - vorbeikommen (vi)

W) würsteln - Stuhlgang (vi)

Z) Zeckentaxi - Katze (nt)





*170508*

Wechsel der Bedeutung von Kunst

Jede Zeit, jeder Moment im Voranschreiten der Dauer des Weltseins und menschlichen Lebens, schafft durch den Bruch im Erkennen - der eine urteilende, rationale, vernünftige Stellung zum Wahrgenommenen verlangt - und der daraus folgenden (nur im Wunder behebbaren) Ungleichzeitigkeit des Ereignisses und Ereignishaften und dem menschlichen Reagieren einen Bereich des Dämonischen. Weil der Mensch somit immer in zwei Bereichen steckt - dem Nachdenkenden, Verarbeitenden, und dem zugleich schon alleine durch sein Dasein weiter Handelnden.

Die Kunst nun hebt diesen irrationalen, damit Dämonischen Bereich, durch ihre ordnende Aufgabe, in der sie beurteilt, WAS als "meta-Geschehen" da passiert, welcher übergreifenden, dauernden Idee etwas zuzuordnen ist. Sie stiftet damit Sinn, macht zum Handeln fähig.

Diese Aufgabe hat heute scheinbar die Wissenschaft übernommen - in der De- und Entmythologisierung der Aufklärung wurde der (an sich bereits wieder irrationale) Glaube an die Wißbarkeit allen Geschehens, an dessen streng kausale und der Vernunft zugängige Weltenapparat, ja der Glaube eben an einen solchen Apparat, an einen solchen Mechanismus, dessen Irrationales also nur in einem Mangel an Kenntnis der Gesetze begründet liegt.

Damit hat sie die Kunst eigentlich defunktionalisiert, ihrer Aufgabe enthoben. Während sich heute die Kunst bzw. der Bereich, der sich als solcher definiert, gerade in ihrer Avantgarde ihre Aufgabe im SCHAFFEN von Dämonien sieht! Damit wurde sogar Avantgarde im Bemühen, Neues zu schaffen, im Glauben vor allem, das zu können, zum eigentlichen Wesen von Kunst. Es ist eine (vorläufige) Antwort auf die durch die Aufklärung entstandene Sinnlücke, wofür denn Kunst überhaupt da sei.

Seither währt dieser Streit, und in seinen Antworten spiegelt sich genau das: Was von einer Zivilisation als Entdämonisierung betrachtet wird. Und weil im Fühlen ein Mangel begriffen wird, den das Denken nicht einfach wegdiskutieren kann, schafft die heutige Kunst ihre Surrogate, ihre Ersatzstoffe - und sie tut es eben und mangels tragfähiger Mythen und vor allem mangels einer Metaphysik in dieser Dämonisierung der Welt.

Damit aber hat sie ihre Funktion dramatisch verändert - ist von der Aussage zur Konsumware und Lebensbehübschung verkommen, die den irrationalen Bereich als vermeintlich die Lebensfülle steigernden erst schafft (nicht vorfindet oder interpretiert) und im Werk oder gar nur im zur psychischen Haltung versteinerten Gedanken in das Leben hineinträgt.

Das war die Kernauseinandersetzung (nicht zufällig in der denkfernsten, weil unmittelbar-gestalthaft zu bleibenden Kunst - die ebenfalls nicht zufällig heute nur noch von "Interpretationen" lebt, weil aus dem Werk selbst unerkennbar ist, darum auch die Auseinandersetzung um die Wirkung von Kunst, bis zum Eventhaften ... - als erstes aufgetaucht, in der bildnerischen Kunst), die sich bald als Folge der "Aufklärung" (die selber bereits Symptom war) bemerkbar machte: und die damit berechtigte Frage stellte, ob nicht ein Gegenstand, ja jeder Gegenstand des täglichen Gebrauchs, und damit "alles" zum Kunstwerk würde, insofern man es lediglich in diese "Sphäre", in diesen Deutungshimmel hineinhob - so daß Kultur das war, was bereit war, diesen "künstlichen" (im wahrsten Sinne) Himmel einfach am Leben zu halten!

Sämtliche Auseinandersetzungen um und innerhalb der Kunst bewegen sich eigentlich innerhalb dieser Themenbereiche und innerhalb damit zusammenhängender Auffassungsunterschiede! Schon aus dieser kurzen Darstellung wird auch klar, wie Weltanschauung, Philosophie, Charakter, Persönlichkeit und Kunstbegriff wie Kunstwerk auf verschiedensten Ebenen ineinandergreifen.




*170508*

Wann ist Krötenzug Krötenzug?

(Titelverlinkung: Bericht in der Wiener Zeitung)

Sind wir Menschen blind? Dumm? Im Nachhinein ist man immer gescheiter, sagt man. So einfach aber ist es eben nicht. Vorerst der Bericht über die Vorkommnisse:

Tage vor dem schweren Erdbeben vor ein paar Tagen in China, das zehntausende Tote und Zerstörung über die Großstadt Mianyang und die Region brachte, waren hunderttausende Kröten aus ihren Erdlöchern gekrochen und hatten die Stadt verlassen! Warum dieses Warnzeichen von den Behörden (zur Einleitung von Evakuierungsmaßnahmen) nicht ernst genommen wurde lag vermutlich nur daran, daß es nicht gemeldet worden war. So wie 1976 in Tangshan, wo es 650.000 Tote gegeben hatte.

Denn in China nimmt man solche Vorzeichen ernst: Im Februar 1975 in Haicheng hatte man auf das ungewöhnliche Verhalten von Tieren reagiert und die Stadt rechtzeitig evakuiert: Zwanzig Stunden vor dem Beben war aufgefallen, daß die Schlangen ihre Erdlöcher und die Stadt verließen.

Nicht ernstgenommen aber hatte man 2004 in Thailand die Beobachtung, daß Elefanten und zahlreiche andere Tierarten die Küstenregionen verlassen und ins Landesinnere gezogen waren - lange schon, bevor man an den Küsten das Beben registrierte.

Ebenfalls nicht ernstgenommen worden war am 6. Mai 1976 in Friaul, daß Mäuse und Ratten ihre Erdlöcher verließen und die Tiere in den Ställen panisch wurden. Gleiches hatte man nach dem Bericht des Plinius im Jahre 76 in Pompeji Stunden vor dem Ausbruch des Vesuv beobachtet, aber nicht ernst genommen.

Nicht ernst genommen? Das war es ja wohl vermutlich nicht. Vielmehr zeigt sich, daß alles Unbekannte, Ungewöhnliche, Fremde mit Staunen betrachtet wird, das keine Interpretation erst aus sich heraus findet. Es braucht eben immer den Interpretationshorizont (hier: ein Bild aus der Erfahrung), der ein (immer blindes) Datum zu einem Faktum macht, ja der erst klar macht, welches Datum zu welchem Faktum gehört und deshalb zu beachten ist.

Die Wahrnehmung über die Sinne selbst ist immer blind, interpretationsloses "Geräusch" - ein ganz klares Argument gegen den Unfug, Teleonomie für die Natur anzunehmen. Es ist das genuin Menschliche (oder: Artspezifische), das über die Benennung (über die Erfahrung im Ressentiment, im "festgelegten Bezug", ja direkt könnte man sagen: kulturell Kategorisierte) das nie definierbare Sinnesreizungsgestöber zu Gestalten gliedert.

Kultur ist eben die apriorische Definition der Natur, die Institutionalisierung und damit A-Priorisierung (Voraus-Setzung) von Beziehungen. Das Maß der Wahrheit einer Kultur, ja überhaupt also der Kultur (und nicht: Unkultur) ergibt sich aus der Wahrhaftigkeit ihrer Basis, ihrer Weltsicht! Es sind somit immer die Religionen und Mythen, die ersten, grundlegendsten Sichten der Welt, die eine Kultur definieren und begründen, weil möglich machen!





*170508*

Die Epoche der Muttersöhnchen

In zahlreichen weiteren Beiträgen im Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen und kirchlichen Fragestellungen habe ich das ausgearbeitet, was längst an der Zeit wäre, als Generalthese und Überschrift herauszustreichen:

Ausgehend von der ethisch-politischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, einbeziehend die ganz realen Folgen des Fehlens des Männlichen, kamen in der Nachkriegsgeneration Menschen an die Schalthebel, die die Erosionseffekte der Demokratie (ohne temporäre Korrekturen steuert sie fast zwangsläufig in die Ochlokratie, die Herrschaft der Schlechten) nützend bzw. in diesen hochgespült eine

"Epoche der Muttersöhnchen"

besiegelte.

Sie ist gekennzeichnet von allen Charakterschwächen und -voraussetzungen sowie Persönlichkeits- und damit Gedankenschwächen, die man früher als "Muttersöhnchen" treffend bezeichnete. Mit dem Effekt, daß es den Edlen verlitten ist, mit denselben Waffen zu kämpfen, die über die Schaffung und Änderung der Spielregeln Machtpositionen bewirken.

Denn das Wesen unserer Gesellschaftsordnung ist, daß die Macht zugleich auch die Spielregeln festsetzt, mit denen sie erreicht werden kann.

Unter diesem scheinbar so einfachen, aber so leicht verifizierbaren Generalgesichtspunkt erklärt sich so gut wie alles, was seither in Kirche und Staat passiert und passiert ist.





*170508*

Freitag, 16. Mai 2008

Zerrüttung und Schaffenskraft


Wildgans schreibt in seinen Briefen immer wieder davon, wie schwer es plötzlich geworden sei, sich materielles Überleben zu sichern. Vor dem Ersten Weltkrieg sei es sogar relativ leicht gewesen, als Künstler zu überleben, insoweit, als eine bescheidene Existenz rasch möglich gewesen war.

Das habe sich in den revolutionären und sittlich-kulturellen Umbrüchen nach der Katastrophe 1914-18 gründlich geändert. Nicht nur, weil das, was zuvor gedacht und gefühlt wurde, plötzlich unaktuell war. Man hat aus den Briefen den Eindruck eines plötzlich wirksam gewordenen Undefinierbaren, Irrationalen, aus dem Lot Gekommenen, Unwägbaren des Lebens.

Die relative Ruhe, ja Einfachheit der vorkrieglichen Lebensführung (Wildgans stammte keineswegs aus begüterten Verhältnissen, im Gegenteil - dazu sein Stück "Armut") war einer hektischen, unberechenbaren Unsicherheit gewichen.

Deren Sorgen ihm jede Arbeitsruhe nahmen.

Wildgans konnte unter dräuenden Existenzsorgen nicht arbeiten. Schon gar nicht ob seiner Verpflichtungen. Er hatte zwei Kinder. Aus vielen seiner Äußerungen ist abzuleiten, daß sich Tätigkeiten zum Broterwerb und Erfüllung seines Auftrages als Dichter auseinander entwickelt hätten.

Es wird ihm nicht alleine so gegangen sein. Und er schreibt auch davon, daß allgemein schöpferische Unfruchtbarkeit herrsche.

WIEWOHL er immer wieder betont, daß die Frage der schöpferischen Potenz KEINE Frage der hungrigen Mägen sei, die es erst zu füllen gäbe. Dies würde keine künstlerische Blüte bringen. Sein Verstehen von Sittlichkeit als Grundlage der künstlerischen Potenz sei anderer Art: das des geistigen Klimas, in dem die Menschen zu leben hätten. Aus diesem heraus ließe sich - so Wildgans - auch jede Schwierigkeit bewältigen, nur aus diesem heraus gäbe es Durchhaltekraft und Schaffenswillen.

Wildgans beklagte, daß er den Willen nicht mehr hätte, "diesem" veränderten Land, diesen veränderten, zerrütteten Menschen etwas zu sagen.

DAS hätte sich so dramatisch geändert.

Ähnliches berichtet übrigens Hugo von Hofmannsthal. Und die Zwischenkriegszeit war in Österreich keine Zeit blühenden literarischen Lebens. Sie war umso mehr aber eine Zeit der Konzepte, Theorien und Philosophien, in die hinein sich die (nach den Worten von Wildgans) einstige kulturelle Gipfelhöhe Österreichs ergoß.





*160508*

Weitblick bis ins Heute


Anton Wildgans kritisiert bereits 1921, nach eineinhalb Jahren unglücklich verlaufener Burgtheaterdirektion, die Tendenz des Theaters, um des Effektes willen jedes Prinzip zu verraten. Im Besonderen riskiert er ein Zerwürfnis mit Max Reinhardt, obwohl dieser scheinbar so großmütig zur "Rettung des Burgtheaters" zu sehr günstigen Bedingungen dort zu arbeiten - mitsamt vielen "seiner" Schauspieler.

Wildgans verwahrt sich, unter dem Motto "Entwicklungshilfe" in Wahrheit das Burgtheater als Stätte hoher Kunst zu entleeren und zur Tourneebühne zu degradieren. Gerade im Sinne des zerstörten Landes brauche es eine Stätte wahrer und österreichisch-deutscher Kunst, um das Land geistig-sittlich an hoher Kunst wieder aufzurichten.

Viel zu sehr sei das Theater - namentlich in Berlin (M. Reinhardt) - zur Stätte niedriger Gelüste des Publikums geworden. Die Bühnen selbst seien zu Orten geworden, wo sich Regisseure der Eitelkeit hingeben könnten, unter denen die Schauspielkunst, die sich nur dem Geiste des Dichters verpflichtet zu sein wissen müsse, zur reinen Marionettentätigkeit zerfalle.

Dabei sei ohnehin der Zustand der (darstellenden) Kunst mangels sittlich-geistiger Bildung der Schauspieler in erbarmenswertem Zustande. Wildgans schlägt deshalb 1923 der "Wiener Akademie für Musik und darstellenden Künste" in einem langen Konzept vor, einen Lehrstuhl einzurichten, der genau diesen Schwachpunkt zum Inhalt habe:

Die Schauspieler würden die Stücke und die Rollen nicht mehr verstehen, weil es ihnen an Verständnis für die Probleme und Problematiken der Dichter fehle, die diese in ihre Stücke und Figuren packten. Erst wenn die geistige Problematik der Dichter verstanden sei - die sich in den Stücken ja je nur anders darstelle - sei auch die Gewährleistung gegeben, daß die Schauspieler ihre Rollen gut spielen könnten, weil sie sie verstünden. Schauspiel sei kein technischer Schnickschnack (sinngemäß), sondern als Kunst wie jede Kunst eine Angelegenheit sittlich-geistiger Reife.

Was hat sich bis heute an der Dringlichkeit dieser Forderungen geändert? Die beschreiben, woran das Theater erstickt, vorderhand ins Koma gefallen ist.





*160508*

Gewalt ist am Rand aller Dinge

Man braucht gewisse Zeit um zu begreifen. Und um den Mut zu finden, sich zu jener Gewalt zu bekennen, die auszuüben vom Wahrnehmen von Verantwortung niemals zu trennen ist. Undifferenziert wurde in den letzten Jahrzehnten Gewalt verurteilt. Indem man von einem von allen zweifelsfrei als wünschenswert deklarierten Zustand der Gewaltfreiheit ausging.

Doch damit macht man eine Utopie (bis hin zum Fatalismus) zum Maßstab der Moral, die auch Handlungen einschließt, die Dinge betreffen, die eben durch die zum Gebrechen, zum Versagen, zur Schwäche, zur Schuld einer Vollendung von Natürlichem als Gesollten disponierte Verfaßtheit des Menschen (Erbsünde) geschützt werden müssen.

Gewalt als Autorisierung ist wesentlicher Bestandteil von Verantwortung einer Sache, einem Ding gegenüber. Damit ist Gewalt Bestandteil von Eigentum, das sonst solches eben nicht ist.

Man vergißt allzu leicht, daß die heutigen Diskussionen um Gewaltfreiheit keineswegs Gewaltfreiheit meinen, sondern subtile, umso niederträchtigere politische Maßnahmen sind, die nur ein Ziel haben: bestimmte, politisch als Gegner auftretende Formen von Gewalt auszuschalten, um anderen Gewaltträgern freien Raum zu lassen.

Dabei soll hier keineswegs von "Gandhi-Phänomenen" die Rede sein, denen ja auch nur grotesk unreflektierte Geister Gewaltfreiheit unterschieben - Gandhi machte nur aus der Not eine Tugend und fand nur andere Formen politischer Gewalt - denn Politik ist immer eine Frage der Gewalt: die KERNFRAGE DER DEMOKRATIE, die sich lediglich um die Regelung der Gewaltverhältnisse dreht, deren Qualität sogar daran bemessen wird, welche Mechanismen sie hat, um diese Gewalt je neu zu verteilen, um damit Mißbrauch vorzubeugen.

Vielmehr soll die Rede von ideologiebestimmter Politik sein, die immer dann schlagend wird, wenn es um die Frage der öffentlichen Moral geht. Denn hier geht es immer nur um männliche Gewalt, um Gewalt der Väter, wenn von Gewaltfreiheit in der Familie gesprochen wird - nie um die Macht und Gewalt der Frau, die sie über die Seelen (als ihre Domäne) haben und ausüben. Selbstverständlich hat diese Gewalt eine bestimmte Form - doch das hat sie auch, wenn sie durch Frauen (und in denselben Fällen) ausgeübt wird.

(Und wie das der Fall ist, beweist eine Anekdote: Beim bundesdeutschen Literaturwettbewerb "Macht und Frau" vor zehn Jahren befand die Jury mit Bedauern, daß die eingesandten Beiträge nicht "auf der Höhe der feministischen Diskussion" seien. Sondern fast ausschließlich Frauen zeichneten, die als Gewaltausübende traumatische Spuren in den dargestellten Figuren hinterlassen hatten.)

Ein nicht unweiser Spruch, der vor Jahren Plakate in Wien (in ganz anderem Zusammenhang) zierte, lautete: "Gewalt ist der Rand aller Dinge." Keine politische Kraft verzichtet also in Wahrheit auf Gewalt! Sie möchte ihre Ausübung und ihre Form nur für sich monopolisieren und legalisieren, partizipieren, und: ihre Hinterfragung verhindern.

Bereits angesprochen, aber noch ausgeführt, sei der eigentliche Hintergrund, worauf sich die Forderung nach Gewaltfreiheit (bis hin zur Bergpredigt als ethische Forderung höherer Art zu finden) bezieht. Sie ist ohne den Begriff von "Wahrheit" nicht denkbar, und bezieht sich auf das Sein selbst, dessen Maß an Entelechie - an Gestaltwerdung also - in seinem Wesen, seiner "Natur" begründet liegt. Jede Gewalt, die eine Naturwidrigkeit an einer Sache will, ist somit tatsächlich abzulehnen. Sie ist ein Schlag ins Gesicht des Schöpfers, und KANN gar keine positiven Auswirkungen haben, weil sie eine Gestalt sucht, die keinen Anteil am Sein hätte - also den Schein sucht. (Was die "natürliche" Neigung der Phantasten, Utopisten und Wirklichkeitsverweigerer oder -gescheiterten zur Gewalt erklärt: Gar nicht selten sind jene, die am lautesten Frieden fordern, am gewalttätigsten bzw. -bereitesten.) Diese Form der Gewaltverweigerung ist ethisch damit sogar gefordert. Auch wenn das Maß der Gewalt im komplexen sozialen und verantwortungsgeprägten Geflecht nicht immer leicht zu finden ist.

Wo immer also jemand sich bemüht, verantwortlich zu agieren, indem er versucht, eine Sache im Bestand zu halten wie zu schaffen, braucht er zumindest auch den Mut zur rechten Gewalt. Gewalt ist somit eine Frage einer richtig und durch die Wahrheit der Dinge definierten Verantwortung, und ihre Grenzen (das betrifft auch die Diskussion um die Monopolisierung der Gewalt durch den Staat, die sich ebenfalls am Zueinander von Individuum und Staat bemessen muß, nicht pauschal beantwortbar sein darf, sonst schafft man Totalitarismus) ziehen sich genau dort.

Sonst tritt ein, was Anton Wildgans angesichts des Ausgangs des Ersten Weltkrieges in einem seiner Briefe meinte: "Wer den Mut nicht hat, Gewalt auszuüben, fällt ihr zum Opfer."




*160508*

Donnerstag, 15. Mai 2008

Epigonentod


Wildgans litt unsäglich und zeitlebens unter Verdächtigungen, Epigone zu sein. Erst warf man ihm vor, Rilke zu imitieren, dann wiederum mit seinen religiösen Stoffen einer Mode hinterherzulaufen.

Er fand sich in der einzigen möglichen Position: sich nur der Wahrheit verpflichtet zu sehen, unabhängiger vom Urteil der anderen zu werden.

Auch im versuchten Beweis der Rechtschaffenheit des eigenen Denkens, das lieber andere zitiert als das Risiko einzugehen, den Schmerz der eigenen Autoritätslosigkeit - denn das ist die Unterstellung, ein Epigone zu sein - zu erleiden. Mehr, als es reines Gebot der Klugheit wäre.

So hebt sich die Frage, ob das Schaffen von Figuren nicht genau das ist ... weil Kunst ein mögliches Leben zum Wirklichen macht. Dessen Wahrheitsgehalt sub species aeternitatem eine Frage der Tugend - nicht des bewußten Wollens ist.

Lebensangst also? Eifersucht auf die Figur, der man erst bereitwillig sich selbst abtrat, um dann festzustellen, daß man selbst nicht existiert, Epigone der eigenen Behauptung geworden ist? (Das Thema meines Stücks "Der Poppenspeeler)

(Etwas zum Schmunzeln: Bei den Proben zu meinem Stück "Paradas" kam von einem Dritten, der zusah, die kritische, gewiß gutgemeinte, umso bemerkenswertere Rückmeldung, daß die Handpuppe Paradas schon sehr lebendig sei, ja man sie als wirkliche lebendige Figur wahrnehme - aber ich sollte doch noch mehr an mir arbeiten ...)




*150508*

Dogmatisches Frausein

In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal verwendet Anton Wildgans eine Formulierung, die damals lediglich eine Feststellung über die Natur war, der aber heute durchwegs der Verdacht der Ideologisierung anhaftet. Zu der sie sogar werden kann, im übrigen - als Rückzugs- und Rekonstruktionsbasis eines verständnislos kopfschüttelnd gewordenen Mannseins.

Wildgans schreibt, daß im eigentlichen Sinn nur der Mann ein Kind "wollen" kann. Die Frau kann nur zustimmen, hinnehmen, empfangen. Indem er diese simple Tatsache feststellt, am Worte hält, zeigt er aber auch ihre metaphysische Dimension.

Die Frauenbewegung erkannte deshalb sehr gut, was die Erfindung und Einführung der Pille" für sie bedeutete - die Möglichkeit, sich gegen die Natur in dieser Bipolarität Mann - Frau, wie sie in dem einfachen Satz oben als Sprache der Gestalten ausgedrückt ist, aufzulehnen. Es bedeutete ein Leben, das aus der Hingabe sich erhebt, diese von sich weist - zugunsten einer positivistischen Lebensgestaltung, zugunsten einer Ideologie des identitären Selbstentwurfs.

Zu der das Sein der Geschlechter damit wurde. Und der umso gewaltsamere Folgen mit sich bringt, umso mehr den Totalitarismus fordert, als er nie gelingen KANN. Sondern das Gegenteil bewirkt. Weil er in der Verneinung ... die Existenz der metaphysischen Substanz selbst zum Dogma erstarren läßt.




*150508*

Von der Dogmatisierung der Identität

Undefiniert, damit wehrlos gemacht, wird die Identität eines Menschen voluntaristisch-behauptet, zur immer aktuell aufrecht zu haltenden, durch die Notwendigkeit zur geschichtlichen Kontinuität ob des je nur vorübergehenden, nie mehr als vage von einem selbst definierbarem Selbstseins fast notwendig erstarrenden Maske. In einem sozial nicht apriorisch definierten, natürlich-gesunden Umfeld - das meint ja Kultur - ist die Kraft nicht zur Existenzerhaltung eingesetzt, offen um sich der Entfaltung widmen zu können.

Ein kulturloses oder kulturzerstörerisches Umfeld, das für alle Sünden gierig offen ist, die sich auf den Platz in der Schöpfung beziehen - Neid (der andere könnte das mir zustehende haben), Geiz (der andere könnte es mir wegnehmen, eine Sünde des zerstörten Vertrauens in den Nächsten also), Eitelkeit, Wollust ...

Angegriffen, wird das was am Naturgeschehen je fehlt zur Ideologie. Wird der Traum des Erinnerns, der Traum des Möglichen zur romantischen, politischen und lebensgefährlichen Utopie.





*150508*

Der "pastorale" Ansatz - Armut IV

A. Wildgans, der sich aus eigenem Erleben in Kindheit und Jugend, aber auch aus völlig anderen Zeitbedingungen heraus (er hat das Massenelend im Wien der Wende vom 19. aufs 20. Jahrhundert erlebt, wo Wien binnen 60 Jahren von 500.000 auf 2.000.000 Einwohner auseinandergeplatzt ist) als heute vorherrschen, gegen die negativen Folgen der Armut ausgesprochen hat (die - aus notwendiger Ergebenheit folgende - schon erwähnte Schwächung des positiven Willens), hat sich 1918/19 geweigert, einem Aufruf an die Völker beizutreten, in welchem sämtliche Schriftsteller deutscher Zunge geeint dazu aufriefen, bei den Verhandlungen zu einer Friedensordnung das rechte Maß zu wahren.

Er blieb damit nicht alleine, und hat dies (wie die Mehrzahl der Verweigerer übrigens) damit begründet, daß die Aufgabe der Künstler nicht sei, sich politisch zu instrumentalisieren, sondern das seelisch Gute zu fördern: und das heiße in dieser Lage die Lektionen aus der Niederlage als Früchte zu begreifen, die der Höherentwicklung der sittlichen Lage des Volkes dienten. Und ihm SO zu einer zukünftig hervorragenden Stellung im europäischen Konzert verhülfen. TROTZ der zu erwartenden - und eingetretenen - Ungerechtigkeit der diktierten Nachkriegsordnung.

Wie anders klingen da die Ansätze, die heute Künstler wie Priester dazu bringen, sich für soziale Gerechtigkeit auszusprechen. Wie anders klingt es da, was den Betroffenen heute gesagt wird: da ruft man zur Faust auf, zum Recht auf Gerechtigkeit, das zu erkämpfen wäre.

Ich mußte immer schmunzeln, wenn einer der bekanntesten Arbeiterpriester der Diözese St. Pölten - Relikt eines schnell wieder abgebrochenen Experiments in den 60er, 70er Jahren, wo Priester in den Arbeitsprozeß eingebunden sein sollten, um so in Verbindung zur Arbeiterschicht zu kommen - laut aufschrie, sein Merkmal. Als hätte er, gehaltsabgesichert, existentiell nie einen Moment wirklich gefährdet, aus dieser Erfahrung, auch mal am Fließband gestanden zu sein, Legitimation, für die Arbeiter zu sprechen.

Als einziger. So dachte er, das verriet seine Haltung auf jeden Fall. Wieviel schlechtes Gewissen - das Unausgewogenheit fast von selbst bringt - dabei war, wenn er auf Sitzungen und Versammlungen abstrakte Rechte der Arbeitnehmer einforderte. Dabei wie so viele die personale Natur der Not nie begriff. Diese Form von Hochmut, die sich in "Mitleid" äußerte, ist Kennzeichen dieser lächerlichen Figuren. Sie war auch die Ursache, sich zu marxistischem Gedankengut wie verpflichtet zu fühlen. Sich des eigenen Auges und Herzens zugunsten einer abstrakten Idee, einer idealisierten, romantisierten, kulturverneinenden Lebensform gar (zu solcher wurde der Sozialreformer im 20. Jahrhundert, schon gar, wenn er "Intellektueller" war, auch wenn sie ganz anders dachten und denken) begaben.

Wildgans begriff das. Er begriff, daß die Wechselfälle des Lebens Aufrufe an die Seele sind, freier und damit größer, höher zu werden. Er begriff, daß sein Dienst der war, die Schönheit als Nährquelle aufrechtzuhalten, inmitten einer häßlichen Welt, von der man sich nicht im Untergehen in vermeintlichen Notwendigkeiten übermannen lassen durfte. Die Seele hat gerade in großer Bedrängnis mit ihrer Bodenverbundenheit hauszuhalten, um sich nicht zu verlieren.

Er ist gescheitert.




*150508*

Die Zukunft - Armut III

"Hat Gott nicht die Armen in der Welt auserwählt, um sie durch den Glauben reich und zu Erben des Königreichs zu machen, das er denen verheißen hat, die ihn lieben? Ihr aber verachtet den Armen. Sind es nicht die Reichen, die euch unterdrücken und euch vor die Gerichte schleppen? Sind nicht sie es, die den hohen Namen lästern, der über euch ausgerufen worden ist? Wenn ihr dagegen nach dem Wort der Schrift: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! das königliche Gesetz erfüllt, dann handelt ihr recht. Wenn ihr aber nach dem Ansehen der Person urteilt, begeht ihr eine Sünde und aus dem Gesetz selbst wird offenbar, dass ihr es übertreten habt." (Jak. 2,4-9)

Das Beratungsinstitut McKinsey hat das Abbröckeln des Mittelstandes festgestellt: Allein in den letzten vier Jahren von 54 auf 49 Millionen Deutsche. Zur Definition: Der Mittelstand ist jener Stand einer Gesellschaft, der sich selbst zu erhalten vermag, ohne von Sozialleistungen abhängig zu sein, dessen Stabilität und Prosperität hingegen sogar den Sockel der Solidarleistung einer Gesellschaft stellt. Bei anhaltender Entwicklung wird bis 2020 über die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer aus der Mittelschicht in die Unterschicht abgerutscht sein. Zwar ist die Mittelschicht "nach oben" theoretisch offen, doch deutlich ist das Abrutschen der gesamten Mittelschicht nach unten zu bemerken. (Allein 2000 bis 2003 hat sich in Deutschland die Zahl der Spitzensteuersatzzahler von 350.000 auf 800.000 mehr als verdoppelt, wobei zunehmend der obere Anteil der Mittelschicht den Steuersatz der Oberschicht bezahlt.) Übrigens: gemäß einer Prognose von Karl Marx, wenn auch aus anderen Gründen.

In Deutschland läuft derzeit eine Debatte, daß die traditionelle Mittelschicht (die längst von der Schicht der Gewerbetreibenden und Selbständigen zum Stand der Angestellten und Beamten geworden ist) mit Einkommen, die nominell für soliden Lebensstandard reichen "müßten", in rasantem Tempo abwärts fährt. Das heißt: Diese Schichten klagen, daß sie ihr Leben in all seiner Diversifikation allmählich und deutlich zunehmend nicht mehr finanzieren können. Der traditionelle Bildungsstand, der eigentliche Kulturträger, mit Klavierunterricht für die Tochter und Frankreichwoche für den Sohn, Doppelverdiener mit schon deshalb notwendigen zwei Autos, um das Leben zu organisieren, den Kreditraten für den Hausbau und dem Bildungsurlaub in der Toskana, kämpft ums Überleben.

Das erinnert mich an die Klagen meines Taufpaten selig, eines gutsituierten traditionellen Geschäftsmannes, der in den letzten Jahren immer meinte, heute gehe es nicht mehr darum, etwas aufzubauen, sondern es sei schon schwierig genug, das Erreichte zu erhalten. Was diese ältere Generation sich überhaupt nicht mehr vorstellen konnte, war, welches gesellschaftliche Klima das des Aufbauoptimismus ersetzen könnte. Mit der Kernfrage: Ob ein solches Klima überhaupt ersetzbar IST. Weil eine Gesellschaft, eine Zivilisation zusammenbrechen könnte, wenn es den Nachkommen an Optimismus zur Entfaltung fehlt. (Voranschreiten - was nur in gewisser Hinsicht heißt: Fortschritt - ist also eine Bedingung des Menschseins überhaupt.)

Auffallend (so ein Bremer Soziologe) sei dabei das Auseinanderklaffen von subjektiver Wahrnehmung und objektiven Daten. Es fühlten sich deutlich mehr Menschen der Mittelschicht gefährdet, ja diese Ängste ("Polarisierung" bedeutet ja ihr Zerriebenwerden zwischen Arm und Reich) würden zu deren Kennzeichen, als dies durch Fakten feststellbar ist. Standesängste vor allem dieser Mittelschicht sind somit demokratisch-politisch zunehmend relevant. Eine Entwicklung, die nicht zuletzt in den Zwanziger, Dreißiger Jahren die historischen Erscheinungen (Nationalsozialismen in Europa) begünstigt hat, die exakt diese Identitätslücken (die sich allesamt auf den Faktor "Stand" beziehen) aufzufüllen versprochen (und gehalten) haben.

Die Sanierungsnotwendigkeiten der Staatshaushalte haben in den letzten Jahren in Deutschland (wie in Österreich) dazu geführt, daß jede Lohnerhöhung um ein Prozent das Steueraufkommen um zwei Prozent erhöht ... Allerdings hinkt das Argument, daß eine steuerliche Entlastung der Mittelschichten durch Ankurbelung der Nachfrage (und DAMIT erhöhtes Steueraufkommen) eine Art "Selbstfinanzierung" darstellt. Bisher hat sich nämlich gezeigt, daß eine solche (theoretische) Selbstfinanzierung durch immer neu auftretende Faktoren praktisch NIE eintrat.

Die demographische Entwicklung zeigt darüber hinaus, wie sich mit mathematischer Sicherheit der Zusammenhang "weniger Kinder IST GLEICH Armut" auch bei uns bewahrheiten wird.



*150508*

Mittwoch, 14. Mai 2008

Formbeherrschung und leerer Wohlklang

Aktueller denn je.

"... ziehe es jedenfalls vor, Gedanken zu besitzen und trotzdem die Form zu beherrschen, als aus der Not der Gedankenlosigkeit die Tugend des leeren Wohlklanges oder des "plastischen Getues" zu machen ..." 


A. Wildgans an A. Trebitsch, 1918



*140508*

Hemmungskünstler

"... Gäbe es wirkliche Erfüllungen, so gäbe es keine Kunst. Der schöpferische Impuls entsteht - natürlich unter der Voraussetzung der künstlerischen Begabung - wo ein starkes Erlebnis nicht zu Ende gelebt werden kann oder konnte. Immer und überall. Es ist nicht notwendig, daß sich die überschüssige, äußerlich nicht auf ihre Kosten gekommene Erlebniskraft gerade auf das Stoffliche des jeweils eben Erlebten, nicht ganz Erlebten wirft. Eine unausgegebene Kraft ist da, die sich auch eines anderen Stoffes bemächtigen kann. Wenn auch das Erstere die Regel sein wird ..." 


Anton Wildgans; Brief an A. Trebitsch, April 1917





*140508*

Dienstag, 13. Mai 2008

Die Welt ist nicht als finstere vorstellbar ...

(Titelverlinkung: imdb-Seite mit Vita Mel Gibson und zahlreichen Statements aus Interviews, die er zu sich und seiner Arbeit getätigt hat.)

... für den, der sie einmal im Licht gesehen hat.

Mel Gibson's Verständnis von Film (und Kunst) hat etwas nahezu magistisch-liturgisches. So die Originalsprachen - Aramäisch und Maya - in seinen beiden Filmen "Die Passion" und "Apocalypto." Die Verbindung von Gestalt und Aussage also. Genau das ist bei beiden Filmen auch die Schwäche - denn Kunst ist mehr als Realismus, weil auch die Wirklichkeit kein rein aktualistische Aussage darstellt, sondern in einem Zeitkontinuum steht - aus gestern und heute, von etwas her, auf etwas zu. Aus diesem Grund sind seine Filme weniger (durch den Sinnhorizont in Wahrheit ergreifende) Kunstwerke, sondern (wo sie es sind: sogar schockierende) Dokumentationen. Seine von ihm selbst produzierten und als Regisseur verwirklichten Filme haben deshalb immer den Charakter von "engagierter Kunst" (mit genau diesem Schuß von contradictio in adjectio, diesem Widerspruch in sich, denn Kunst kann nicht funktional sein, genau deshalb ist sie ja Kunst und nicht Machwerk) und Machwerken. Das gilt auch für "The Passion", so sehr man sich als Christ scheut, angesichts des Dargestellten überhaupt solche Urteile zu treffen. Der Film beeindruckt nicht durch seine Theologie, durch seine "Gnade", sondern durch den "Realismus des Realismus" - wo man sich sogar die Frage stellen darf, ob er damit nicht ... unwahrer wird als Gibson (s.o.) gemeint hat.

Aber abgesehen davon ist sein Bemühen in Apocalypto" auch aus christlicher Sicht höher einzuschätzen als in "The Passion," auch weil das, was er im Film über das Leiden und Sterben Jesu versucht hat, ja letztlich eine Angelegenheit der Liturgie ist! "Apocalypto" ist aufgrund seiner bemerkenswerten Aussage (die Gibson zumindest versucht hat, aus genannten Gründen übrigens aber auch dort gescheitert ist) weit interessanter.

Denn in Apocalypto hat er versucht nachzuzeichnen, was es bedeutet, in einer wirklich heidnischen Welt zu leben. Er hat versucht die Transzendenz der Welt, geläutert durch die menschliche Vernunft und Tugend, zu zeigen, die auf die christlichen Heilsmysterien hinweisen. Er hat versucht, ein "Jahr 0" zu zeigen, wo für Südamerika die "Fülle der Zeiten" herannahte - und der Erlöser (durch die spanischen Entdecker, mit denen der Film endet) den Kontinent betrat. (Eine ähnliche Aussage hat ja Papst Benedikt XVI. in Südamerika getätigt.)

Unser Vernunftstand - als längst vom Lichte Christi durchdrungen, auch wenn wir das ablehnen: die Früchte wirken einfach weiter, sind nicht so einfach auszulöschen - ist nicht mehr auf diesen Stand zu bringen. Wir können nicht mehr wirklich nachvollziehen, was eine Welt voller Magie und Aberglaube an Angst und Schrecken angesichts soviel Irrationalem bedeutet. Das Licht Christi IST bereits in alle Winkel der Welt gedrungen, das ist nicht mehr rückgängig zu machen, denn der Mensch hat Erinnerung, die ist nicht (so schnell zumindest) auszulöschen.

Aber die Frage, was damals, 1492, wirklich passiert ist, ist weit spannender als sie rezipiert wurde.

Gibson ist aus einem eindeutigen Grund eindeutig gescheitert - wer nämlich einmal die Welt im Licht gesehen hat, der kann nicht mehr so tun wie jemand, der sie nur im Finstern kennt. Ja, er kann es sich nicht einmal wirklich "vorstellen", es nachvollziehen. Solche "Vorstellung" eröffnet sich nur noch ableitend, rückfolgernd.

Und deshalb ist es auch grotesk, wenn manche Katholiken aus "pastoralen Überlegungen" heraus versuchen Forderungen zu erfüllen, die Karl Rahner mit "Erlöster müßten Sie aussehen, die Christen" bezeichnet. Solche Aussagen sind einfach ... dumm. Denn selbst die Differenzierung in Nicht-Gläubige und Gläubige ist bereits eine Frucht einer christlich erleuchteten, durchleuchteten Vernunft.

So sind all diese Grinsgesichter, die sogar expressis verbis als "Elite der Evangelisation" dargestellt werden, nichts als ... phantastische, wenn aber nicht verwirrte, "falschgesichtige" Narren. Man glaubt ihnen ihre Gesichter noch dazu sowieso nicht. Nur wissen sie es nicht, weil sie sich von der Wirklichkeit verabschiedet und die Welt der ... Dämonie gewählt haben. Auch das wissen sie natürlich nicht.

Da hat zukünftige Evangelisation bereits ihr neues Betätigungsfeld ... und die Enkel Mel Gibson's einen neuen Film. Es lohnt also, Material zu sammeln.

(Gesichter von Heiligen sind im Buch von Wilhelm Schamoni "Das wahre Gesicht der Heiligen" zu sehen.)





*130508*

Sonntag, 11. Mai 2008

Alles anders als früher

Feiertagskuchen; Pfingsten 2008
Marshall zeigt (in "Der Bischof") sehr schön Figuren, u. a. Priesterfiguren, die manche "Lehre" des Vatikanums II. falsch verstanden oder vermittelt bekommen hatten - und nun an der Kirche zweifelten, die sich nämlich ... widersprach, verglichen mit vorigen Aussagen. (So zum Thema Ökumene.)

Da erinnerte ich mich an jemanden, der im Laufe der zwei Jahrzehnte nach dem Vatikanum regelrecht "verrückt" geworden war. Eine einfache Frau, die oft und oft den Kopf geschüttelt hatte: "Das ist heute ja alles anders als früher - was früher Sünde war, ist es jetzt plötzlich nicht mehr ..." Als ihr geliebter Sohn sich "wiederverheiratete" und ein Priester ihm eine "Segnung" - einer Hochzeitsfeier ähnlich - angedeihen ließ, schlug sie sich auf seine Seite.

Diese Frau ist tatsächlich heute ... verrückt. Sie hat kein Urteilsvermögen mehr, das ihr nämlich "subjektiviert" wurde (zwangsläufig wurde sie in ihrer Ethik auf sich zurückgeworfen!) und folglich auch keine Basis der Persönlichkeit, lebt ihre letzten Jahre in einem erschütternden Zustand.

Wunderbar übrigens, wie schön Marshall zeigt, daß eine Verkündigung und Pastoral nichts taugt, wenn sie nicht auf den "simplen Durchschnitt" der Menschen - handfest, widerspruchsfrei, einfach und praktikabel - angelegt ist. Und zwar nicht nur wegen der Gläubigen. Daß somit eine Moraltheologie, die am möglichen Spezialfall ihr Maß nimmt, also die Unsicherheit jeder positiven Aussage für den Einzelfall betont, ihre praktische Tauglichkeit schlicht verliert. Auch wenn jeder Einzelfall subtil zu beurteilen ist.





*110508*

Samstag, 10. Mai 2008

Und bin doch schon so alt


Und bin doch schon so alt - zwar nicht an Jahren,
Doch wenn ich manchmal andre reden höre,
Wie jener fürchtet, daß er dies verlöre,
Und dieser klagt um Dinge, welche waren -

Da weiß ich erst, wie viel ich schon erfahren,
Wie nichts mehr so ist, daß es mich betöre
Und meines Grames stumme Kreise störe -
Ist dies nicht eines Alternden Gebaren?

Und dann mein Herz - es schlägt nicht mehr so laut
Wenn andre, Jüngre, von den Zielen sprechen,
Die man aus Wünschen in die Wolken baut,

Und die, vom trunknen Auge kaum geschaut,
Beim ersten rauhen Windstoß niederbrechen -
Es altert schon - es schlägt nicht mehr so laut.


Anton Wildgans; das Zwölfte aus den Sonetten an Ead; 1912





*100508*

Was ist ... Laie - Amateur - Profi

Die Frage, ob ein Mensch, zumal ein künstlerisch Tätiger, Laie, Amateur oder Profi ist, mag für den Außenstehenden akademischer Natur sein, ist es für den in der "Kunstbranche" Tätigen jedoch keineswegs. Ihre Beantwortung hat einerseits Folgen auf die jeweilige Selbstfindung, auf das Selbstbewußtsein, mit dem jemand sich an seine Berufung hingibt (Künstler sind aus Natur für Begegnendes sehr empfänglich, und dies vor dem Hintergrund, daß der Satz "Das Amt macht den Minister" viel tiefere Bedeutung hat als heute, im Zeitalter der mechanistisch-teleonomischen Verzerrung, irrtümlich angenommen wird), anderseits konkrete Auswirkungen in Hinblick auf Broterwerb.

Wer gerade den Künstler kennt, um seine Archetyplosigkeit weiß, weiß auch wie wichtig ihm Fragen der Identität sind. Ein Bereich, in dem ihm tiefe Verletzungen leicht zugefügt werden können.

Aber es ist auch wichtig für die Einschätzung künstlerischer Leistung, was die Erwartung betrifft, die in sie gesetzt werden kann oder soll. Aus diesem Grund soll hier eine Begriffsbestimmung stattfinden, unabhängig davon, um welchen Kunstbereich es sich handelt.


Was also ist ein Laie?

Einer, der einem Berufs- und Tätigkeitsfeld außerhalb steht, es als Gegenüberstehender, Kunde, Konsument betrachtet, das an ihm eine Aufgabe erfüllt. Im Gegensatz zum

Amateur

übt der Laie nicht diese Tätigkeit auch aus. Der Amateur übt diese Tätigkeit siehe oben aus, ohne je den Anspruch zu erheben, sie zur selben Meisterschaft wie ein Könner zu erheben. Der Amateur also behauptet, kein Talent zu haben, noch mehr aber: daß diese Frage unwesentlich ist, denn die Ausübung der Tätigkeit macht ihm schlichtweg Freude, er "liebt" sie: "amare" ... Dessen ungeachtet kann der Amateur vom Niveau seines Könnens her betrachtet sehr weit stehen, zumal die Unverkrampftheit seiner Selbsteinschätzung viele Fesseln löst, die solches Können oft in der Entfaltung behindern.

Der Professionalist (Profi) wiederum übt eine Tätigkeit aus, indem er sich ihr ganz zuwendet. Das heißt mit allen Konsequenzen von ihr abhängt. Erst, wenn jemand seine Existenz und Identität auf eine bestimmte Tätigkeit ausrichtet, kann man von Profi sprechen.

Das heißt wiederum nicht, daß er durch sie ausschließlich oder überhaupt sein Brot verdienen muß! Deshalb gibt es tatsächlich oft "bessere" Amateure" als Profis - weil diese Amateure dann gar keine Amateure, sondern in Wahrheit Profis sind, die nur nicht von ihrer Tätigkeit leben können. Ja zum Gegenteil, hat der Amateur oft mehr Talent, aber nicht bestimmte charakterliche Eigenschaften, während es wahre Profis gibt, die kein oder nur wenig Talent haben, aber bestimmte Seiten eines Berufs schätzen.

Ich denke hier vor allem an Schauspieler, unter denen ein nicht geringer Prozentsatz sich befindet, der eher durch Eitelkeit, Geltungssucht und Selbstüberschätzung glänzt als durch künstlerisches Talent, welche Bedürfnisse das Rampenlicht aufs Vorzüglichste fördert und befriedigt. Niemand wird umgekehrt einem Anton Wildgans oder Franz Grillparzer absprechen, professionell Gedichte gemacht zu haben - auch wenn er noch lange Zeit von seiner Juristentätigkeit zu leben hatte, oder gar (ihm zuwider) von seiner Frau.

Und der Schriftsteller (er hat von allen diesen Personengruppen künstlerischer Neigung wahrscheinlich die schwierigste Einkommenslage) ist ja lange nicht alleine mit solcher Lage: Schauspieler, die Kellner statt Hamlet und Desdemona spielen, Literaten, die für Zeitungen schreiben und dabei eher Microsoft kennenlernen als Paradiesesgärten, Sänger, die bei Beerdigungen Grabreden halten, Geigenvirtuosen, die Kindern Unterricht geben, usw. usf.

Die Grenzen sind jedenfalls fließend. In keinem Fall sagen sie etwas aus über das wirkliche Niveau, über die Kunstfertigkeit des Ausübenden. Dies trifft ebenfalls nicht zu, was eine allfällige vorzuweisende "Ausbildung" anbelangt. Deren Wert gerade im künstlerischen Bereich meist völlig (wenn schon nicht: über-, so doch meist) fehlgeschätzt wird. Die wesentliche Ausbildung eines Künstlers ist nie erlernbar. Sie hat mit seiner Persönlichkeit zu tun, und das ist eine Aufgabe, die das Leben in welcher Form auch immer (und: sie muß geradezu individuell sein, hat soviele Gesichter wie es Künstler gibt) sie gestellt wird.

Natürlich ist die "Wahrscheinlichkeit", daß jemand, der eine künstlerische Tätigkeit ausübt, und der sie noch dazu gut ausübt, auch künstlerische Berufung wie Begabung hat, groß. Das gleiche betrifft das, was man als Kunstfertigkeit bezeichnen könnte. Aber sie alleine ist nicht das Kriterium! Gerade der Nicht-Künstler ist zuzeiten mit geschickter Imitation, mit ausgebuffter Bedienung von Konventionen in hohem Ansehen "als Künstler" - dabei "tut er nur so wie der tut, der Künstler IST". Schon gar trifft dies zu, wenn man noch berücksichtigt, daß der Künstler aus seiner Zeit heraustritt - ihr im Zurücksein voraus ist ... also oft gerade in seinem Besonderssein, DEM Kriterium des Künstlers, den es nur in Alleinstellung gibt, verkannt wird. Hier wäre noch ein ganzes Spektrum an Wirkweisen und Gestalten anzuführen, wie künstlerische Begabung und künstlerische Tätigkeit, aber auch das Fehlen des Künstlertums IN AUSÜBUNG künstlerischer Tätigkeit verquickt sein können. Was bis zur Ununterscheidbarkeit (für den Laien auf jeden Fall) geht. Fast.

Es ist aber gerade heute ein weitverbreiteter und fast möchte man sagen: verhängnisvoller Fehler, Künstlertum mit Ausbildungsdiplomen zu verquicken - was ja erst eine junge Entwicklung ist, deren Bedeutung von Gewerkschaften nicht unbeträchtlich gefördert wurde und wird, weil solche Klassifizierung Grundbedingung ihrer Existenz (und vor allem der ihrer Funktionäre) darstellt. Weil es den "Ausgebildeten" ist er Künstler in eine dem Künstlertum gefährliche Lage der Identitätsarchetype bringt, und ist er keiner, dessen Hochmut gefährdet, im Insgesamt aber die rein existentiellen Aspekte einer künstlerischen Tätigkeit beeinträchtigt.

Als Hinweis: Es gibt alleine in Wien mittlerweile TAUSENDE - und Hunderte weitere kommen jedes Jahr dazu - arbeitslose "Schauspieler", die sämtlich Diplome vorweisen können, ohne daß man von auffallenden Leistungswettbewerben auf den Bühnen sprechen könnte ... natürlich verknappen sie die Existenzmöglichkeiten für jene, die wirkliche Künstler sind bzw. im Grunde: für alle, weil der Arbeitsmarkt für alle zu klein wird.

Die Fertigkeit selbst wiederum, die an einer Schule vermittelbar ist, beschränkt sich auf zwei Bereiche: Das Feedback, wenn die Lehrer gut sind (was aus vorgenannten Gründen - Lehrtätigkeit als Brotjob bei mangelnder künstlerischer Tätigkeitsmöglichkeit - gleichfalls immer fraglicher wird) sowie gewisse technische Fähigkeiten, soweit solche benötigt werden. Beim Geigenspieler also die Forderung bestimmter Fingerfertigkeiten, beim Schauspieler bestimmte Kulturtechniken, die für das Spielen bestimmter Stücke bestimmter Epochen von Bedeutung sind (nur so ist das "Fechten" z. B. als Ausbildungsgegenstand zu rechtfertigen).

Die Rückmeldung ist wertvoll, denn die 'Entwicklung jedes Künstlers geschieht in Stufen, auf deren Absatz immer Ausübung, Tätigkeit in diesem Bereich steht, um dann wieder in Setzung, Sammlung für das Gewahrwerden des nächsten Schrittes, überzugehen. Das bedeutet aber auch, daß sie ersetzbar ist.

Schon gar aber gilt Gleiches für das Erlernen von Kulturtechniken bzw. Techniken. Es ist schauspielerisches Handwerk zu wissen, wie man Spaghetti in Italien ißt, oder wie man die Hummerschere - oder die Bierflasche am Bau handhabt oder wohin der Schneider die Nadel steckt, wenn er zwischendurch Maß nimmt. Dafür braucht es keine Schule. Nur in gewissem Rahmen, meist aber mit gewisser Berechtigung, betrifft dies auch eine Sprechausbildung, wenn es um Hilfestellung geht, bestimmte Idiome durch Rückmeldung aus dem Sprachgehabe auszuschleifen, oder durch bestimmte Kniffe zu lernen, der Sprache mit wenigen Tricks mehr oder rascher Schliff zu verleihen. Denn ein Ziel des guten Sprechens ist ja, der Sprache mehr Flüssigkeit, ja Leichtigkeit zu geben. Darum kann es viel helfen, die Endung -ig (um ein Beispiel zu nennen) auf "ich" gesprochen "gelehrt" zu bekommen. Das Wesentliche aber, auch am Sprechen - die Persönlichkeit, die sich durch die Sprache ausdrückt - ist aber auch hier nicht zu lernen.

Was heute Mode ist, ist glattweg und ausschließlich abzulehnen: mangels wirklicher Daseinsberechtigung nämlich wird Ausbildung auf Bereiche erstreckt, die nicht anders als Dummenfang bezeichnet werden können. Wer wirklich glaubt, Persönlichkeit sei schulisch-methodisch auszubauen, wird nur jenen Persönlichkeitszuwachs erlangen, der ihm aus dem Begreifen erwächst, daß ihm viel unnötige Zeit und noch mehr Geld aus der Tasche gezogen wurde.

Dies betrifft ausnahmslos auch alle sogenannten "Schauspielschulen", ob sie nach "Stanislawski", "Grotowski", "Strasberg", "method acting" oder (wie meist) einer Mixtur aus Erwähntem und noch viel mehr arbeiten.

Zusammenfassung

Die Unterscheidung in Laie - Amateur - Profi ist oft nur sehr schwer möglich, und die Grenzen sind in vielen Kriterien fließend. In jedem Fall ist der Entwicklung entgegenzuschreiten, die diese Klassifizierungen - der menschlich-kulturellen Natur folgend den anderen zu einem Stand zu zählen, zu dem die Stellung institutionalisiert ist - von Zuerkennungsmechanismen abhängig macht, die den eine Kunst Ausübenden "standardisiert" anerkennen oder ablehnen. Und weil Kunst mit Staunen, Staunen aber unbedingt mit Autorität zusammenhängt, hat dies gerade für einen Künstler oft dramatische Auswirkungen.

In jedem Fall kann gesagt werden, daß sich beim Künstler selbst, beim Profi also, denn Künstler gibt es nur als solchen, die Frage dadurch beantwortet, als mit den Jahren ihm zumindest das "Dazugehören" selbstverständlich wird. Dies mag als Trost gelten. Während der Laie - und nur er ist der eigentliche Widerpart zum Profi, insofern wird auch in der Bezeichnung "Amateur" oft genug falsch gewertet - eine Darbietung, vor allem aber sich - und hier verrät er sich unzweifelhaft - als Außenstehender betrachten wird. Als ihm fremden Bereich, den er dennoch irgendwie berühren darf, der ansonsten aber völlig außerhalb seiner Identität steht. Er wird deshalb auch jede künstlerische Leistung nach Kriterien bewerten, die dem Publikum anstehen, und "dabeizusein" wird ihm wichtiger sein als die innere Qualität des Tuns.

Weshalb jedem Künstler - dies noch als Abschluß - dringend anzuraten ist, seine Familie, den Ort, wo er das Haupt hinlegt, unter Künstlern zu suchen, und seien es Amateure, aber sicher nicht unter Laien, oder (noch gefährlicher, weil heimtückischer) unter Ausübenden, die Laien sind und es deshalb noch leichter schaffen, ein der wirklichen Kunstwelt nahezu deckungsgleiches Surrogat der Identität aufzurichten.





*100508* 

Mir ist der Vater nie abgegangen

Brigitte Ederer (Siemens-Vorstandsdirektorin) im Interview.

Vor 15 Jahren hat sie sich als Staatssekretärin "für den EU-Beitritt" hervorgetan - von ihr also ging die Kampagne aus, das Volk zum Ja zur EU hinzumanipulieren. Denn nichts anderes ist damals passiert.

Es ist kein Wunder, daß die "bekennende Sozialistin" in einem Konzern an die Spitze kam, der sich von seinem Kerngeschäft bereits weit entfernt hat, und der den Großteil seines Konzerngewinns auf den Finanzmärkten - und nicht durch Produktion oder ähnliches - einfährt. Der Name Siemens taucht auch immer wieder bei fragwürdigen Geschäften auf, wie unlängst im Zusammenhang mit Atomkraftwerken und Windenergie, wo Siemens massiv die Finger im Geschäft hat.

Eines dürfte bei Siemens also gut funktionieren: Die Verquickung von wirtschaftlichem Interesse und Politik. In diesem Sinne ist Siemens gewiß ein "moderner" Konzern, der auf der gesamten Klaviatur des "heutigen" Wirtschaftslebens spielt.

Dabei ist manches durchaus gescheit, was Ederer sagt. Die Frage, ob sie einfach geschickt darin ist, so zu tun wie jene tun, die viel Macht und Verantwortung kennengelernt haben, tragen, lasse ich vorerst ungeklärt. Ebenso wie die Frage, ob sie nicht ein prototypisches Beispiel für die Vermännlichung des weiblichen Charakters als Folge antiautoritärer Destruktion (vulgo: charakterlicher Rebellionsdisposition) ist. Wie auch die Frage, ob nicht gerade solche Menschen (das beschränkt sich nicht auf Frauen, auch wenn es dort sehr typisch ist) zu einer ungehemmten Kopulation mit der Macht, deren Prinzipien sie sich vorbildlich und wie süchtig aneignen, neigen.

Frauen assimilieren sich nämlich regelrecht in Machtgefügen, denen sie zugehören wollen.





*100508*

Freitag, 9. Mai 2008

Ein heilig Buch

DIE MUTTER

Sie ging mit ihrem Knaben an der Hand,
Der, schwer und schleppend an der Last
Des Krüppelseins, ihr ohne Rast
Sein Elend an die junge Hüfte band.

Da ward ihr schlankes Schreiten müd und zag,
Und ihre Augen schienen wie ein Buch
Von Bitternis und einem Fluch,
Der über ihm und ihrem Leben lag.

So gingen sie und gingen durch Alleen
Des frühlingsjungen Parkes bis dahin,
Wo Kinder spielten unter frischem Grün:
Dort hielt er sie, dort blieb sie zögernd stehn.

Und stand, bis in den kühlen Taugeruch
Des Abends letzter Kinderjubel scholl.
Da sah sie auf ihn nieder liebevoll,
Und ihre Augen waren wie ein  h e i l i g  Buch.


Anton Wildgans; 1908





*090508*

Armut als Schiene zur Heiligkeit

Ich habe an dieser Stelle bereits einmal von den eigentümlichen und historischen Beispielen widersprechender Art geschrieben, mit der auch kirchliche Stellen heute von der Armut sprechen bzw. mit ihr umgehen.

Da fiel mir - erst gestern, bei "Der Bischof" von B. Marshall - ein, daß der dritte evangelische Rat ... ARMUT ... ist. Das dritte Gelübde der Ordensleute. Neben Keuschheit und Gehorsam. Als Leitplanke des Weges zur Heiligkeit.

Zwar schreibt auch A. Wildgans über die Armut in einem Sinn, wie wir es heute kennen, aber das ist genau auf der heutigen Linie, wenn man versteht, daß sittliches Leben für Wildgans ausschließlich eine Frage des bewußten Wollens ist. Eine Einschätzung, die aus seinem Leben heraus erschlossen wird.

Wildgans schreibt in einem Brief an seinen Freund Arthur Trebitsch (1905):

"... erzeugt die Armut Angewiesenheit auf die zufällige Erwerbsart der Güter... (dies) erzeugt den Mangel an freier Selbstbestimmung über sich und seine Zukunft, schadet dem Kontinuitätsgefühl des Individuums und hindert die harmonische Entfaltung des Charakters, der, unter zu vielen ungewissen Bedingungen stehend, in seiner Entwicklung bald vorwärts getrieben durch den Anfall eines Gutes und das damit verbundene Gelingen eines Planes, bald durch lange Widerwärtigkeiten ins Stocken gebracht wird. Die Konstanz der Willensbildung leidet also unter der Armut. Und da gerade der Wille die ethische Kraft in uns ist, leidet die Ethik unseres Handelns ebenfalls durch die Armut ..."

Im Grunde ist genau diese Argumentation Wildgans' über die Folgen der Armut - er beschreibt aber Elend, nicht Armut - die heute vorzufindende, in ihrem Kern genau die heutige protestantische Sicht.

Denn derselbe Grund - diese Angewiesenheit etc. siehe oben, diese extreme Form der ohnmächtigen Ausgeliefertheit an den Augenblick - ist es, der die Überantwortung an den Willen Gottes an einen Punkt vorantreibt, der dem paradiesischen Menschen "nahe" kommt. Die von Wildgans beklagte mangelnde "Konstanz" des Willens wird anders, als er meint auf eine Metaebene gehoben und fordert ein Sterben, das hart, aber einem evangelischen Rat äußerst nahe kommt.

Das Problem der Armut ist somit "lediglich" die Verelendung durch moralische Überforderung. Armut VERLANGT Sinn, und fordert solchen - sonst führt sie zum Elend und zur Niedrigkeit.

Und erst damit wird deutlich, was der Hl. Laurentius gemeint haben mag, als er von den Armen als den "Schätzen" der Kirche sprach: nicht, weil sie eine Herausforderung an die Gebebereitschaft der Besitzenden darstellten (das wäre zynisch), sondern weil die Armen in besonderer Weise eine Schule der Heiligkeit und Gegenwart Gottes durchleben.





*090508*

1908 mit der Männlichkeit kokettieren.

"... Es ist leider heutzutage so weit, daß der Mann mütterlicher empfindet als die meisten Frauen. Nicht daß er weibischer geworden wäre - nein, aber die Frauen machen einen Entweiblichungsprozeß durch. Sie entfernen sich in jeder Beziehung immer mehr von der heiligen Mutter Erde, um eigensinnige, oberflächliche, scheingebildete Puppen zu werden. Denn die Bildung, die ihnen leichter zugänglich ist als ehedem, benutzen sie nicht, um ihre Weiblichkeit zu vertiefen, sondern um mit der Männlichkeit zu kokettieren. ..."


A. Wildgans, Brief an seine spätere Frau; 16. März 1908





*090508*

Nur die Besetzung wechselt

A. Wildgans - Brief an seine spätere Frau


"... Die Akteure werden wieder beim Seitenfenster auf die Bühne steigen wie damals - nur sie und das Publikum sind andere geworden. Es ändern sich nur die Besetzungen auf der Schaubühne des Lebens ..."









Anton Wildgans, Brief an seine Mutter vom 4. August 1907

Bildverlinkung: Villa Trebitsch, Sulz - Brief an seine spätere Frau, gelesen von Eberhard Wagner - mp3-Datei zum Hören.





*090508*

Fortuna ist blind

Oliver Kahn hat seine Memoiren veröffentlicht. Das Buch heißt "Ich. Erfolg kommt von innen."

Das hat sogar was. Aber schon sehe ich Legionen von Leuten, die sich damit plagen, dieses "Ich" so zu bewegen, daß es endlich Erfolg zeitigt ... Denn was Kahn nicht sagt: Erfolg ist Schicksal, es hat mit eines Leben zu tun und ist im Grunde (fast) zufällig. "Fortuna ist blind" heißt es nicht zufällig.

Insofern mag Kahns Aussage Ergebnis einer Selbstbeobachtung sein - nämlich der Wahrnehmung, daß Erfolg eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, weil er das Zeug zum hervorragenden Torhüter hat und den Willen, das zu verifizieren. Aber auch nicht mehr.

Denn es muß schon mit dem Teufel zugehen (durchaus: wörtlich) - aber jedes beharrliche Tun führt zum Erfolg, das ist nur eine Frage der Zeit und der Geduld, der Beharrlichkeit eben.

Das eigentliche Problem bei dem heutigen Gequatsche über "Erfolg" (WIE VIELE haben Bücher, Seminare etc. etc. konsumiert, wie wenige ...) ist nicht, daß die Menschen unter Erfolglosigkeit leiden, sondern daß sie sich jede Mühe ersparen wollen, zum einen, und daß sie einfach mit dem Erfolg, der ihnen und ihrem Tun kraft Natur beschieden ist unzufrieden sind, weil ihre Gier, ihr Laster zu mehr und inadäquat Höherem peitscht.





*090508*

Blutige Nasen & An den Vätern liegt es

Immer wieder stelle ich fest, welch fatale Auswirkungen Entscheidungen hatten, die ich als junger Mensch in einer Unfreiheit, die ich niemals als solche erkannt hatte, getroffen habe. Und aus diesem Erleben heraus erkenne ich bei anderen so Ähnliches ... Daß es mir scheinen mag, als wäre das ganze Leben schon damit ausgefüllt, die Fehlentscheidungen der Jugend auszuglätten. Die anderer sowieso - und dann noch die eigenen, die einem aufgebürdet wurden, die man traf, sich selbst überlassen, weil dem jugendlichen Ungestüm niemand zu widerstehen wagte. Manchmal will es scheinen, daß einem die ganze verbliebene Lebensspanne nicht reichen wird, nur wegzuräumen, was an Folgen aus so viel Dummheit und Irrtum blieb. Daß man gar nicht mehr dazu kommen wird, das zu tun, was man im Leben doch eigentlich hätte tun sollen.

Nimmt man Wildgans her und so viele andere: welche frühe Reife und Vollendung schon in so jungen Jahren, dabei: welch strenges Vaterjoch, dem er sich untergeordnet sah wie unterordnete.

Der junge Mensch hat doch ein Recht darauf, daß ihm die wichtigsten Weichenstellungen von den Eltern abgenommen werden. Es ist nicht nur zynisch, es ist schlimmste Verwahrlosung, der Jugend immer mehr Entscheidungsgewalt über ihr Leben (und dazu noch über das anderer!) in die Hände zu drücken.

Ohne daß man ihnen sagt: Junge Leute, Ihr MÜSZT nicht alles entscheiden! Es ist Verführung, Euch einzureden, daß Ihr DÜRFT, weil es uns bequemer ist zu sagen, daß Ihr auch KÖNNT.

Es ist zynisch und niederträchtig, der Jugend die eigene Erfahrung und Reife vorzuenthalten mit dem brutalen (sic!) Verweis, sie sollten ihre eigenen Erfahrungen machen, sich ihre Nasen ruhig blutig stoßen.

Das werden sie, gewiß, das müssen sie, gewiß - aber zur rechten Zeit. Wann das ist? Das sagt schon das Leben, denn das ist auch nicht für jeden gleich.

Das aber ist der Grund für die tiefe Traurigkeit, die ich in den Augen der Jugend zu sehen meine. Und was einem nur noch Mitgefühl empfinden läßt, weil man sieht, wieviele falsche Weichenstellungen gesetzt, welche Lawinen an Folgen jeder freien Lebensentfaltung eines Tages, wenn sie aufgewacht, im Wege stehen werden.

Ich sage es noch einmal, und immer wieder: Die Jugend wird die Eltern hassen. Es wird nichts nützen, wenn sich einzelne, wenn ich mich, auf ihre Seite stelle. Es gibt sie, die Kollektivschuld, weil es die Folgen gibt, die eine abstrakte Kategorie ("Eltern") betreffen.

Dann müssen vor allem wir Väter sagen: Wir haben zu wenig geblutet. Wir haben uns nicht hinmetzeln lassen, sondern wollten feige Schmerz vermeiden, haben deshalb all den Dummheiten freien Lauf gelassen, wollten auch zu Lebzeiten "geliebt" und vor allem: belohnt werden.

Es läge an uns zu sagen: Schluß mit dem Zirkus! Schluß mit den höflichen (aber doch so feigen) Lügen vor allem, Dingen zuzustimmen, von denen wir doch wissen, daß sie falsch sind.

Es liegt an den Männern.




*090508*

Donnerstag, 8. Mai 2008

Die Beilagen kosten mehr als das Fleisch

Die Jagd nach dem niedrigsten Preis zeitigt längst ganz besondere Früchte, die wir uns alle selbst zuzuschreiben haben. Durch den Zwang, immer genauer zu kalkulieren, hat sich das Prinzip des niedrigsten Preises zugespitzt. Es braucht den "Idealfall". Jede Abweichung ist nicht mehr kalkuliert.

Damit hat man eine durchaus "esoterische" Quelle der Inflation geschaffen. Denn jedes Ausbrechen aus diesem Idealfall wird überproportional teuer.

Am Beispiel: Das auf eine Kalkulation sich auswirkende Kostengefüge eines Unternehmens wird idealisiert und drückt sich dann in einem (niedrigen) Preis aus. Konkurrenzfähigkeit wird generell also auf dieses idealisierte, ja nahezu utopische Wirtschaftsgeschehen bezogen. Jeder außerordentliche Fall aber durchbricht das normale Kalkulationsgefüge und bleibt "gesondert" nachzuforden.

Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß Sie für fast alles bereits extra zahlen müssen, und das wird immer schlimmer, erfaßt immer mehr "Außerordentlichkeiten", engt also den "Normalfall" immer mehr ein, was vor ein paar Jahren, noch mehr vor Jahrzehnten keinen einen Muckser wert war? Sie wollen nicht abbuchen? Zahlscheingebühr. Sie wollen direkt im Geschäft ihre Rechnung zahlen? Das kostet extra. Sie wollen auf Ihrer Hausbank eine Überweisung (von IHREM Konto) auf ein bankfremdes Konto tätigen? Gebühren. Sie wollen einen Sonderwunsch? Das kostet so viel, daß sie es lieber lassen sollten.

Noch vor ein paar Jahren meinte man deshalb, die Wirtschaft würde sich "zweiteilen" (noch früher: es würde nur der standardisierte "Normfall" übrigbleiben) - in "Normfällelieferanten" (Billigmärkte etc.) und in Spezialisten (die dann auch sehr teuer sind.)

Heute - ein beeindruckendes Beispiel: Bei Billa und Hofer - beginnt man einzusehen, daß auch dies nicht funktioniert. Allmählich versucht man, wieder in ein Insgesamt zu integrieren, was früher eben funktionierte. Wo man noch wußte, wie der Mensch war, wo man dem Partner im Wirtschaftsleben nicht unterstellte, wozu man ihn bald immer mehr zwang. Billa will zum "Greißler" werden. Hofer gute Qualität, ja "bio" anbieten. Eine Wirtschaft des geringeren Übels, des Mangels also, eine Wirtschaft der Häresie: Das Ganze aber gibt es nicht mehr.

"Man"? Im Grunde waren es immer jene, die das Ganze zerstörten, die Häretiker waren - und auf Grundsätze pfiffen, die das gesamte Leben lebenswerter, weil menschengerechter machten. Ich denke mir das immer, wenn ich Wlaschek und sein "Billa" sehe. Was tat der? Er frustrierte die Kunden, um sie mit billigeren Preisen zu erfreuen. Und setzte damit wie übrige "erste" dieser Art eine Spirale in Gang, die zu den heutigen Erscheinungen am Markt ("Strukturbereinigungen") führten und längst alle Branchen erfaßt hat. Die meisten Branchen wurden von diesen Vorgängen "gerupft" zurückgelassen.

Die Folgen werden noch weit mehr zu spüren sein, als wir heute gerne hätten und als uns meist auffällt. Denn Fälle außer der Norm sind preislich argumentierbar oder so "klein", daß sie im Einzelnen nicht auffallen. Aber ... in Summe sich dann bemerkbar machen werden. Mit dem Effekt, daß der Einzelne sich "schuldig" fühlt. Er ist es ja, der nicht "normal" funktioniert. "Normal" - das wird zum Fehlerlosen! Auch hier also die Utopie als Ergebnis und Maßstab von heute.

Auch in der Wirtschaft aber gilt das Gesetz des "Energieausgleichs". Es hat fast etwas Charmantes, auch diese Spielart des Irrtums zu verwirklichen - zu glauben, man könnte dem Leben doch mehr herausreißen ... So geben wir für die Beilagen heute mehr aus als für das Fleisch, wie der Volksmund sagt. Ist zwar das "Leben" in seinen Grundzügen tatsächlich "billig", aber das, was nie auszuschalten sein wird, frißt alles andere auf. Weil der Mensch so ist wie er ist - voller Fehler und Versagen. Wenn das Maß des Wirtschaftens nicht mehr auf DIESE Normalität ausgerichtet ist, auf das, was wir allesamt höchstens schaffen - den Durchschnitt - dann wird es wirklich hart, dann wird es unmenschlich. Und so weit dürften wir bereits sein.

Das funktioniert auch, scheinbar, und hält uns in unseren Hamsterrädern. Wo wir leben, um zu arbeiten, uns selbst zu optimieren ... anstatt: uns zu wirklichen. Und alle Unmenschlichkeit hinzunehmen als das, was sie ist - ein Fluch. Dabei jenen ins Gesicht zu grinsen, die uns einreden wollen, daß wir, gerade wir, vollkommen sein KÖNNEN, sodaß wir das aufgeben müssen, was doch das Leben überhaupt erst auszuhalten macht: Barmherzigkeit. Auch uns gegenüber. Und von dort heraus gegenüber anderen.

Schon vor vielen Jahren und mit völlig anderem wirtschaftlichen Hintergrund als heute habe ich nämlich festgestellt, daß zu leben für alle letztlich ... gleich ist. Es unterscheidet sich nur in der Stellung im Insgesamt, nie am weniger oder mehr an Kreuz oder Glück. Keiner und nichts aber hat es sich durch Leistung zum "Recht" verdient.





*080508*