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Freitag, 9. Mai 2008

Ein heilig Buch

DIE MUTTER

Sie ging mit ihrem Knaben an der Hand,
Der, schwer und schleppend an der Last
Des Krüppelseins, ihr ohne Rast
Sein Elend an die junge Hüfte band.

Da ward ihr schlankes Schreiten müd und zag,
Und ihre Augen schienen wie ein Buch
Von Bitternis und einem Fluch,
Der über ihm und ihrem Leben lag.

So gingen sie und gingen durch Alleen
Des frühlingsjungen Parkes bis dahin,
Wo Kinder spielten unter frischem Grün:
Dort hielt er sie, dort blieb sie zögernd stehn.

Und stand, bis in den kühlen Taugeruch
Des Abends letzter Kinderjubel scholl.
Da sah sie auf ihn nieder liebevoll,
Und ihre Augen waren wie ein  h e i l i g  Buch.


Anton Wildgans; 1908





*090508*