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Sonntag, 19. Mai 2013

Singer of Old Tales

Die Filmvorführerin (China 1966) - Sie besuchte landauf, landab die kleinen Dörfer, spielte Filme, sang die Lieder und begleitete sich auf Rasseln und Klappern, und verbreitete die neusten Nachrichten. Und die neueste Propaganda, die Mythen der Gegenwart. 

Sänger. Dichter. Poeten. So, wie seit Jahrtausenden ein Volk - auf der ganzen Erde - geprägt, nein, geschaffen wurde. Das dasselbe glaubte, dasselbe fühlte und dachte, sich auf dieselben Wurzeln zurückführte. Ein Sänger gab es an den nächsten weiter, seit je lebten so die Geschichten, die je neu adaptiert und aktualisiert wurden. Auf der Grundlage eines großen Repertoires von Topoi, von Schemen, Symbolen, Strukturen, Haltungen, angeführt von Rhythmik und Sprachgefühl, vermochten diese Sänger mit der Zeit tausende und abertausende Zeilen jedesmal zu reproduzieren oder (abhängig von der Qualität des Sängers) neu zu produzieren.

Diese Topoi waren es auch, die völkerübergreifend und weltweit verbreitet wurden, teilweise auch unabhängig voneinander entstanden sein müssen - durch die Sänger, die Poeten. Sie wurden dann jeweils an die konkreten Gegebenheiten angepaßt bzw. sind um sie herum entstanden. In ihnen fand sich ein Volk wieder, seine Gefühle, seine Gedanken, seine Geschichte, seine Tugenden, seine Wertvorstellungen - eine Generation gab es an die nächste weiter. So wurde die Herkunft, die eigene Art je neu zu dem Selbstgefühl erweckt, aus dem jede Gegenwart handelt, und sich damit seine Zukunft schafft.

Am Balkan wurden auf diese Weise sogar noch bis vor wenigen Jahren die alten Sagen und Volkslegenden übermittelt. Und erst vor wenigen Jahren ging der letzte Filmvorführer auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in Pension. Er war bis zuletzt herumgereist. Seine Besuche waren eingebettet in mehrtägige Dorffeste, die man darum herum feierte.

Die ganze abendländische (säkulare) Literatur ist so entstanden, im Zusammenwirken mit den Geschichten der Priester. Immer auf der Grundlage von realem Geschehen, das so lebendig blieb.

Genau so hatten sich schon die Ilias und die Odyssee verbreitet und gebildet. Wenn man heute auch davon ausgeht, daß es den überlieferten Autor Homer tatsächlich gegeben hat; die Geschichte zeigt zu deutlich einheitliche Züge, wie sie nur EIN Schöpfer bilden kann. Aber er griff selber auf alte Überlieferungen zurück. Sie aufzuschreiben war bereits Anzeichen des Verfalls, erst Gedächtnisstütze, bald letzte Erinnerung, weil die Sitte sich auflöste, die Geschichten vergessen wurden. Niemand hätte zuvor daran gedacht, Mündlichkeit war der Weg der Lebendigkeit, in dem der Geist lebendig blieb. Erlosch diese lebendige Weitergabe, fielen auch die Geschichten ins Dunkel des Vergessens, und das passierte auch vielfach.

Auch das Alte Testament - und auch der Erzählkorpus des Neuen, in seiner Gliederung in Einzelgeschichten zeigt sich das noch am unmittelbarsten - ist auf ähnliche Weise weitergegeben worden. Es wird bis zum heutigen Tag mündlich weitererzählt - unter Heranziehung der Erinnerungshilfe, der Schrift, deren im Gehorsam beachteten Exaktheit "lediglich" Ausdruck der Ehrfurcht ist, den dahinterstehenden Geist zu verfälschen. Für die die Apostel die unmittelbarsten Zeugen sind.

Die Sprachstruktur des Alten Testaments zeigt natürlich die deutlichsten Hinweise auf diese Herkunft aus der Mündlichkeit, ehe man die Überlieferung aufschrieb bzw. aufzeichnete, um sie nicht zu verlieren.

Schon Plato aber beklagte den Verlust und die Gefahr, die durch die Schriftlichkeit eintrat, weil sie sich absehbar von dieser Mündlichkeit abstrahierte. Denn ein Text lebt nicht aus seiner Buchstäblichkeit. Er ist Gefäß für einen bestimmten Geist, der im lauten Lesen neu Gestalt annimmt, im Maß wie im Lesenden der Geist lebendig wird, der vom konkreten Wort natürlich nicht abweichen kann. (Womit wir sogar beim Wesen des Schauspiels wären.)

Anderseits bewahrt die Schriftlichkeit sehr getreu diesen originalen Geist in ihrer hinweisenden Funktion, denn wie sich an den alten Sängern des Balkan aufweisen ließ, veränderten sich mangels einer Wächterschaft (wie z. B. Priester sie ausüben) diese Geschichten sehr analog zum jeweiligen Zeitgeist, und dem Publikum, das sie hörte und hören wollte. Das je eigene Vorlieben hatte.



Gesehen auf Glaserei




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