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Montag, 13. Mai 2013

Die Schwäche des linken Flügels

Wenn Melchior Pálagyi die gesamten Wahrnehmungsprozesse auf den ersten Empfindungen des Menschen als Kind aufbaut, so stellt er damit ja nicht einfach eine Behauptung auf. Sondern er beleuchtet, was jeder an seinen eigenen Kindern beobachten kann: Die ersten Sinnesempfindungen sind die Tastempfindungen. Die Wahrnehmungswelt des Kindes baut sich daraus auf. Aber nicht im aktiven "Zufügen", sondern das Erfassen von Eigenschaften muß als Zuordnen verstanden werden. Wie erfassen uns nicht anderes als die Außenwelt, bzw. auch umgekehrt: die Außenwelt wird erfaßt in der Qualität der Selbsterfahrung.

Damit ist klar, daß sich aus der Selbstberührung des Kindes erst die Möglichkeit ergibt, überhaupt (rückfolgernd) Empfindungen des "Zustoßens" mit denen des "Handelns" zu koordinieren. Schrittweise baut sich so das Raumempfinden des Menschen auf, und nach und nach koordiniert er dazu die Empfindungen der übrigen Sinne. Erst in diesem geschlossenen Kreis wird überhaupt Welt als Welt erfahrbar. Wäre der Kreis nicht geschlossen, würde keine einzige Weltwahrnehmung (als mehr oder weniger komplexe, zusammengesetzte Beurteilung der Sinnesempfindung) möglich sein.

Mit einer Ausnahme - dem Gehör. Das Gehör muß aus dieser Sinneslinie herausgehoben werden, denn es geht in gewisser Hinsicht seinen eigenen Weg, ist als innerer Sinn (der Schall geht wie kein anderer Sinn ins Innerste) passives Empfinden, und in dem Versetztwerden in Schwingung baut es das gesamte übrige Menschsein auf.

Die Sprache selbst hinwiederum ist bereits der Übergang des Fühlens in Symbolik. Nur wenn ein Mensch gelernt hat, Empfindungen und Gefühle mit Symbolen zu koordinieren, kann er überhaupt zu einem Selbstbewußtsein gelangen. Daraus ergibt sich, daß Denken immer als sozialer Vorgang begriffen werden muß: es bezieht sich auf das "Du", und von dort aus erst auf ein "ich".

Aber aus dem Angedeuteten kann noch weiterer Schluß gezogen werden. Denn aus dieser Selbstberührung als Basis der erfahrbaren Eigenschaften der Welt ergibt sich eine recht-links-Klassifizierung. Die linke Seite, passiver als die rechte, sodaß die rechte Seite die des ideehaften Gestaltens ist, wird als leidend empfunden, als schwächer.

Wilhelm Fliess zeigt in "Der Ablauf des Lebens" über die mit der Außenwelt akkordierten, ja dieser entnommenen, auf diese eingestimmten Rhythmie, der sämtliche Lebensprozesse unterliegen, noch etwas: aus zellbiologischen Befunden wie aus Charakterstudien schließt er, daß es jeweils die linke Seite ist, die gestaltet wird, während die rechte gestaltet. Und zwar nicht nach festen Bildern, sondern "was eben links vorhanden ist" (was in gewisser Hinsicht als Metapher aufzufassen ist). 

Ist die rechte Seite schwächer ausgeprägt, so zeigt sich in diesem Lebendigen eine generelle Artschwäche. Umgekehrt bringt die Stärke der rechten Seite auch die Prägung "als" (z. B. Mann oder Frau) stärker zum Vorschein. Eine Problematik, die sich bis hinein in das Homosexuellentum (das in dieser Hinsicht auf derselben Linie liegt wie z. B. Legasthenie, als Schwäche der Begriffsbestimmtheit) nachverfolgen läßt, und sogar Aussagepotential über die Gegenwart enthält.

Wie der Verfasser dieser Zeilen hier, an dieser Stelle, auf diese Gedanken kam? Anläßlich einer zufälligen Lektüre über die Schlacht bei Cannae, wo Hannibal 216 v. Chr. die an Zahl doppelt überlegenen Römer (80.000 Mann) in einem wahren Blutbad schlug. (Nur 14.500 sollen überlebt haben). Hannibal errang diesen Sieg, weil er die starre Schlachtordnung ignorierte, die damals als Kriegstaktik üblich war. 

Und die ein Wesensmerkmal hat, das sich durch die gesamte Kriegsgeschichte zieht: Die linke Seite einer Schlachtaufstellung (so auseinandergezogen sie auch sein mag) ist immer die schwächere. Wem es gelang, seinen eigenen rechten Flügel in die linke Flanke zu bringen, der hatte in der Regel die Schlacht gewonnen. Hannibal machte sein Zentrum "weich", nachgiebig, und verlockte so die Römer, ihre Flanke(n) zu öffnen. Das war ihr Ende.*

Nun kann man argumentieren, daß dies ja lediglich an der Bewaffnung lag: links trug der Kämpfer das Schild, rechts die Waffe, sodaß er wenn er sich links wandte, ungeschützt dem Feind im Zentrum gegenüberstand, anders nämlich als rechts. 

Die Römer haben zwar aus diesem Grund gezielt einen Teil ihrer Legionäre zu Linkshändern auszubilden versucht. Der Erfolg war aber nur teilweise gegeben. Die linke Seite war nur verhältnismäßig gestärkt, sie war der rechten immer noch unterlegen. Und das auch bei "natürlichen" Linkshändern: das gesamte Weltbefinden war das einer gewissen Schäche. Untersucht man die Kriegsführung des 20. Jhds. auf diesen Aspekt - der Verfasser dieser Zeilen ist überzeugt, daß sich auch darin ausreichend Belege für diese These finden.

Es ist keineswegs so, daß es gleichgültig wäre, mit welcher Seite ein Mensch schreiben, arbeiten, handeln "lernt". Es ist auch keineswegs so, daß das früher oft gewiß harte oder hart wirkende "Umerziehen" von Linkshändern ohne sinnvollen pädagogischen Effekt blieb. Wenn es auch eine gewisse Notmaßnahme blieb, so hat es doch das gesamte Selbstsein des Menschen gestärkt und geprägt. Nämlich: Als in die Welt Handelnden, auf der Grundlage seines Weltgefühls. Nur die rechte Seite kann das Selbstsein stärken und nach außen treiben.

Das Selbstgefühl des In-der-Welt-seins ist links - schwächer, passiver. Insofern also "flexibler", weil prägsamer. Was zum fatalen Kurzschluß führt, der heute sehr häufig ist: zu meinen, daß diese Prägsamkeit sui generis auch Merkmal von "Kreativität" sei. In Wahrheit ist sie für die meisten Menschen in den Auswirkungen zerstörerisch, sie finden noch schwerer einen Boden in ihrer Identität.

Natürlich kann man fragen, warum sich gerade bei Künstlern, den Heroen der Gestaltung, die linke Seite oft sogar als die schwächere präsentiert. Ja, warum dort gerade Homosexualität gewiß häufiger auftritt als bei Menschen des Alltags, die in den Zweckgefügen der Gesellschaft stecken. Wobei wir nicht berücksichtigen wollen, daß aus obigen Bemerkungen auch in der Zubedeutung des Künstlertums - "Du bist Künstler" - heute sehr viele Fehlurteile erfolgen. Denn der Umkehrschluß ist nicht zulässig: Rechtsschwäche IST nicht zugleich Künstlertum, letzteres neigt nur dazu, aus klar nachvollziehbaren Gründen.

Die Lösung liegt eben genau darin: Kunst hat mit Zwecklosigkeit zu tun, ja sie ist an sich zwecklos, auch wenn sie eine Aufgabe erfüllt. Sie ist Spiel, nicht ernst, und damit auch nicht dem Ernst der Zwecke unterworfen. Derjenige Mensch, der also nicht in das Eintreten in dieses Zweckgefüge geeignet ist - der Künstler, aber auch der Priester, den Fürsten bzw. König nicht zu vergessen - weil seine Sendung gerade in diesem Außenstehen liegt, sich nur daraus erfüllen kann, ist an diese gesellschaftliche Gestalt auch deutlich weniger bis gar nicht gebunden. Daraus ergibt sich (auch hier könnte man noch viele Querverbindungen aufweisen) daß er sich selbst "zum Ganzen" ergänzt, mehr und anders als der Alltagsmensch. Nur so kann er in seiner Phantasie die ganze Welt abbilden, in ihrer Polarität. Der Künstler ist auf eine Weise also ein "Hermaphrodit", er muß die geschlechtliche Polarität in gewissen Hinsichten sich austragen, um so die Weltphänomene in sich imaginieren zu können.** Seine Aufgabe ist auch nicht, sich als Figur in das Zweckgefüge der Gesellschaft einzuordnen. Und wenn man das in Erwägung zieht, schließt sich sogar der Mythos ganz anders auf, als vielfach gemeint wird. Aber wie erst die Wirklichkeit.

Denn der erste Mensch war gewiß Künstler, wie Jesus, der neue Adam, der Künstler katexochen war bzw. ist. Aus dem die ganze Welt erfließt. Erst im Auseinanderbrechen der Ganzheit (in der Ursünde durch "Adam und Eva") lag der Quellpunkt der "Entstaltung der Welt", im Unfrieden, die seither erfolgt ist. Die aber in dieser unserer Geschichte nicht behebbar ist, aus prinzipiellen Gründen. Im Künstler haben wir es also mit einer Wesensschau anderer Natur zu tun. Aber das, wie es so schön heißt, ist eine andere Geschichte.



*Übrigens läßt sich aus der Schlacht von Cannae noch eine Thematik herauslesen, die hier nur angedeutet werden soll. Sie hängt mit der Frage zusammen, warum Hannibal diesen gewaltigen Sieg nicht gleich dazu benützt hatte, Rom zu erobern und den Krieg insgesamt siegreich zu beenden. Zwei Antworten gibt es dafür, beide beleuchten einander: Zum einen war Hannibals Heer einfach nicht stark genug dazu, eine so direkte Auseinandersetzung auszuhalten. Bei Cannae hatte er schon höchstens 40.000 Mann, darunter viele Kelten, die deutlich schwächer bewaffnet waren als die Römer. VOR der Schlacht. Viel interessanter ist aber die zweite Antwort: Das griechische Denken Hannibals kannte den totalen Vernichtungskrieg nicht. Es faßte eine Schlacht ganz anders auf! Denn nach einer solchen setzten sich die Kontrahenden an den Tisch, und verhandelten, schlossen einen Frieden, der auf Vernunft beruhte. Das empfanden die mer aber völlig anders, sie kannten nur den letztendlichen totalen Krieg. Und DARIN waren sie den Helenen "überlegen": in der Maßlosigkeit, in der Kulturlosigkeit. Kein Helene wäre "aufs Ganze" gegangen, das die Existenz des ganzen Volkes in die Waagschale geworfen hätte. Die Römer kannten gar kein SPIEL, nur Zweck.

**Es ist deshalb nicht zufällig, daß sich heute eine "weibliche" und "männliche" Kunst (in der Logik des Feminismus) bilden soll. Sie zeigt in jedem Fall eine mehr als nur quantitative, sondern prinzipielle Verarmung des Schöpferischen an. Denn es gibt in diesem Belang keine "weibliche" oder "männliche" Kunst oder "Sicht der Dinge". Wenn der Kunstbetrieb in diese Einseitigkeit fällt, in diese Lähmung und Geistlosigkeit, dann wird er nur noch zweckbestimmt und politisch, hat aber mit Kunst nichts mehr zu tun.

Es gibt im übrigen tatsächlich, aus oben angedeuteten Gründen folgend, weniger weibliche als männliche Künstler.





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