Fast treibt es einem kalte Schauer über den Rücken, betrachtet man die Wirkmächtigkeit mancher Gedanken. Die ich, wie hier, als "geniale" Erfindung betrachte:
Die Idee Jean-Jacques Rousseaus, dergemäß der Mensch gut geboren wäre, würde er nicht durch die fortschreitende Zivilisation, die differenzierte, zunehmend komplexe Kultur verdorben. Er deutet "... die Formlosigkeit als Ausdruck der Freiheit." Deshalb sind alle Ordnungen zu zerstören, um die Prinzipien der Natur, die neue Ordnung zu entdecken. Das Kind überragt deshalb den Erwachsenen, die Frau den Mann, der Bauer den Städter, der "Wilde" den Zivilisierten.
Rousseau reitet hier nicht nur auf der wohlgenährten, rossigen Stute der menschlichen Sehnsucht nach dem Paradies, nach dem Mutterschooß, sondern auch auf dem Gedanken der "Pädagogik des Seins", der einzigen Erziehung, die jene Liebe zum Inhalt hat, die die Welt erstlich wie letztlich überhaupt sein läßt: Der Kraft, die das potens ins actu ruft und dort erhält, der einzigen Kraft, die errichtet.
Diese warme Wamme unter dem Sitz aber seinen angestammten Böden entfernt und mißdeutet, treibt der Gedanke bis zum heutigen Tag ganze Städte an Pädagogiken und Weltlügen. Er motiviert Revolutionen, schleichende wie abrupte, und reißt die Kultur nieder, er wirft die Menschen in identitätslose, regressive Persönlichkeitsstadien und Androgynie, entwertet Geschichte zur Aneinanderreihung menschlicher Bosheit, macht deren Träger zu Ausgeburten der Hölle, und befördert damit den Feminismus (auch dieser Ausspruch ist von Rousseau: das Gute sei im Weibe) in den Rang einer Kämpferin für das Wohl der Welt als Ganzes.
Man kommt an kein Ende, will man die Wirkgeschichte alleine dieses Gedanken untersuchen. Er "überfiel" Jean-Jacques Rousseau, als er im Alter von 37 Jahren, erfolgloser, unbedeutender Sekretär und stinknormaler Bourgeois, in einer Kutsche sitzt. Blitzartig kommt es ihm, schreibt er später. Er steigt aus, setzt sich unter einen Baum, denkt den Gedanken weiter. Mit einem Male ist ihm seine Sendung klar.
*280409*