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Montag, 1. Februar 2010

Kunst heißt: Persönlichkeitsäußerung

Was Franziska Martienßen-Lohmann über den Gesang sagt, läßt sich über jedes Kunstschaffen - und nicht nur auf der Bühne - sagen:

"Jeder Organismus - und die Stimme ist Gott sei Dank ein Organismus und kein mechanisches Instrument - braucht eine klare Ordnung seiner Lebensfunktionen, wenn er gesund gedeihen soll Gesangsunterricht heißt zum guten Teil: Zurechtrücken, In-Ordnung-bringen der ungeordneten Funktionen, Wegnehmen von falschen und unzweckmäßigen 'Griffen', Antriebgeben für die richtigen, gesunden und kräftigen Tätigkeiten, - Ausschalten und Aktivieren, Lockern und Spannen im ausgewogenen Verhältnis der inneren Ordnung. Es gilt den Kampf gegen die individuellen Möglichkeiten vom kleinsten Physischen bis zum größten Psychischen."

Vehement wendet sich die Pädagogin, die nicht nur in den Augen von Dietrich Fischer-Dieskau zu den besten Lehrern weltweit gehörte, und die zahlreiche Bücher verfaßte, gegen jede Form vom Methode. "Es kann kein Wort scharf genug sein, um die Einseitigkeit, Stumpfsinnigkeit, Unverständigkeit der Gesangsschablone zu brandmarken, die das Stimmorgan als ein abgetrenntes mechanisches Instrument zu drillen versucht."

Und: "Man kann den paradoxen Satz aufstellen: jede Stimme ist eine Ausnahme! Dennoch bleiben sichere Zielsetzung, gesundes Training der Tätigkeiten, konsequentes Durcharbeiten des ganzen sogenannten Gesangsapparates Forderung und Selbstverständlichkeit. Nicht Methode, sondern Individualsystem!" Jede Stimme, schreibt sie, habe ihre eigene Natur und deshalb ihr eigenes Gesetz der inneren Ordnung - das gelte es zu finden.

(Schon früher habe ich an dieser Stelle davon geschrieben: Wo sie davon spricht, daß jeder Kunstausübende auf eine Weise deshalb Autodidakt bleiben müsse, nur so gelinge diese Notwendigkeit der "Eichung" an sich selbst.)

Und sie warnt gleichermaßen vor der Kritiksucht, die sie als Laster bezeichnet, wie vor Zerstörung, die falsches Lob anrichtet - mit der besonderen Nuance der Gefahr, die sie darin sieht, daß "schöngestaltete" Menschen, so sehr sie an jeder Bühne gebraucht werden, einer ganz besonderen Gefahr ausgesetzt sind: Nämlich nie unterscheiden zu können, ob die Zustimmung ihrem Aussehen gehört, oder auf ihre Leistung zurückzuführen ist. Häufig aber werden sie stimmlich-künstlerisch besseren Kollegen vorgezogen, was in den Karrieren vieler Künstler schwere Deformierungen hinterläßt und viel Potential für immer verkommen läßt.

Sie warnt eindringlich vor der "schiefen Ebene" des falschen Lobs, die zur völligen künstlerischen Impotenz führen könne. "Wer von jedem [Kollegen], von jeder Tante [...] sich 'sachverständige' Urteile über [sein Ausübungsorgan] einblasen läßt und sich auf diese Art tausend mißtrauische Ohren anschafft statt zweier, die zuverlässig sind, der muß immer erneut mit ernstem Hinweis für die grundsätzliche Lebensgefahr der schiefen Ebene hingewiesen werden, in die die Stimme durch falsche Selbstkritik hineingebracht wird."

Dennoch meint Martienßen-Lohmann, daß falsches Lob leichter "wegzuerziehen" sei, und daß man sich leichter davor schützen könne, als dies falsche Kritik anbelange. "Wieviele Stimmen sind durch ein einziges falsches Wort - sachlich, psychologisch oder einfach menschlich - für immer ruiniert."

Wieviele weitere - weil immer sehr wahre - Sätze finden sich aber bei ihr: "Wie überall in der Kunst ist [...] zuletzt doch die Persönlichkeit das Ausschlaggebende. Gegen eine bestimmte Art seelischer Lässigkeit und Trägheit ist kein Kraut gewachsen, und fragwürdig ist auch ihr Widerspiel, eine bestimmte Art willens- und ehrgeizmäßiger Verkrampfung und Übersteigerung. Fleiß auf der höheren Ebene künstlerischer Arbeit ist keine Tugend, sondern ein Talent. Dieses Talent schließt von vornherein Anschauungskraft und Konzentrationsfähigkeit ein, - wenn auch oft eiserne Mühe dazu gehört, beide in voller Kraft nach außen hin wirksam werden zu lassen."

"Geschäftiger Ehrgeiz erreicht nichts. Wille, Verstand können in der Kunst merkwürdig gegenstandslose Begriffe werden. Allein im Gebiete der menschlich-künstlerischen Intensität liegen die großen Überraschungen wie die großen Enttäuschungen selbst des erfahrenen Stimmbildners. Stimmbildung ist Menschenbildung."