Je entwirklichter die Menschen denken, und das heißt, je mehr sie in Vorstellungen von etwas verhangen sind, und das heißt wiederum, je mehr sie ihre Ansichten von der Wirklichkeit nach gesollten, nicht nach wirklich selbst gedachten, selbst rückgefolgerten Plausibilitäten formieren, sondern vorwiegend aus Reaktionen zusammenklittern, die verbergen sollen, daß sie diese Erfahrung nicht wirklich einzuschätzen vermögen, umso mehr klammern sie sich an diese Vorstellungsbilder.
Und umso weniger Raum hat damit auch die Wirklichkeit selbst.
Auch und vor allem in der Kunst. Ja, gerade dort, wo man nämlich sagen könnte, daß der originäre Blick des Künstlers praktisch immer an der Vorstellungswelt der Menschen scheitert.
Weil man den Eindruck gewinnt, daß (natürlich keineswegs unbekannte) Vorstellungen, aufgespießt am Spickbord zu sollender Gefühle, Reaktionen, Wirkungen, keinen Blick für Originäres mehr zulassen. Damit, darauf läuft es ja hinaus, ersoffen in Konventionalitätsräuschen sind.
So reagieren dann die Betrachter, so agieren dann die Darbietenden.
Am verräterischsten also für das Fehlen der Erfahrung und wirklicher eigener Gedanken zu einem Thema - sagen wir: Tod, sagen wir: Vergewaltigung, sagen wir: Liebe, sagen wir: Haß, sagen wir: Mord, sagen wir: ... - und für diese Ertränktheit in Konvention ist also, der Wirklichkeit (eines Kunstwerkes, zum Beispiel) bestimmte (inhaltliche) Reaktionen abzuverlangen. Dann hat man es mit Schauspielern zu tun, die meinen, eine vergewaltigte Frau habe in pathetischen Wahnsinn auszubrechen, mit Regisseuren, die behaupten, Liebe sei nur mit schwulstig aufgewölbten Schmachtlippen spielbar, und mit Kuratoren bei Förderstellen, die meinen, Tod habe sich tieftragisch, äußerlich breit, und von Beethovens 5. untermalt, abzuspielen, sonst sei er nicht ausreichend gewürdigt.
Aber Vergewaltigungen spielen sich meist sogar ziemlich "unscheinbar" ab und in Wahnsinn bricht meist niemand aus, es sei denn, er hat ausreichend Zeitungsmeldungen gelesen, die ihm nun nahelegen, möglichst in Hysterie zu verfallen. Liebe hat so unendlich viele Formen, daß sie gerade oft in Zusammenhang mit scheinbarer Reaktionslosigkeit die tiefste Gestalt annimmt. Und Tod ist ein Faktum, das gerade dem am "leichtesten" fällt, der am meisten damit zu tun hat - denn große Menschen sterben leicht, und gehen sehr "natürlich" mit dem Tod um. Nur lächerliche Menschen, wie sie heute natürlich häufig sind, machen daraus ein Theater. Und Diktatur ist nicht die massenhafte und deutlich sichtbare Marionettenproduktion, das sieht man erst wenn man ihr eben nicht zugehört, sondern gerade in ihren wirksamsten Formen eine subtile seelische Zwangslage, die in ihrer Äußerlichkeit eben genau mit der Erfüllung von Konventionen das Gute betreffend täuscht.
Das sieht in der Praxis dann so aus, daß bestimmte Arten und Weisen gefordert und geliefert werden, mit denen explizit gemacht werden soll, was aber doch immer nur ... implizit darstellbar ist!
(Das erinnert mich - zur Illustration - an einen Streit, den ich mit einem Fernsehredakteur hatte, der in einem von mir verfaßten Drehbuch, bei dem auch die Geschichte von mir stammte, eine bestimmte Gegebenheit, nämlich den möglichen Mißbrauch des Mädchens, um das es ging, wörtlich ausgedrückt verlangte. Aber, so meine Reaktion, sie haben doch erkannt, daß es so ist? Beziehungsweise wahrscheinlich so ist? Erzählt es so nicht viel viel mehr, wo es sich der Zuschauer im Kopf bildet, und daß es so ist, haben ja Sie bewiesen? Also: IST es nicht erzählt? Nein, so seine Antwort, er verlange, daß das definitiv zur Sprache komme, und eine entsprechende Reaktion der Umgebung erfolge ... Aha, eine entsprechende Reaktion der Umgebung auch noch ... der muß also ein Problem haben, daß er befürchtet, seine sittlich einwandfreie Haltung würde nicht deutlich genug erkennbar sein? Warum möchte das jemand? Ich habe sehr bald wieder aufgehört, für diese Produktionsfirma zu schreiben.)
Solche faktischen Realitäten, solche Erwartungen und Forderungen aber, mit denen man zunehmend konfrontiert ist, gerade, wenn man nicht der Konvention folgt, wie Konventionslosigkeit auszusehen habe, was meist nichts als eine sogar betonharte Konvention ist, machen die Kunst heute brotlos und scheinbar chancenlos, weil ihre Distributeure, ihre Auftraggeber, ihre Akteure, meist nichts anderes verlangen und zulassen und nicht mehr wagen, als genau die Erfüllung dieser Konvention.
Und so hat auch diese Zeit ihre unerträglich dummen Moden, mit denen sie glaubt, die Probleme der Gegenwart erfaßt zu haben. Dann müssen Jugendliche so und so sein, müssen die Menschen so und so reagieren, müssen sie vor allem aber eines: nicht mehr frei handeln.
Vor allem aber herrscht heute die unerträglich dumme Mode, das Leben selbst "ernst" zu nehmen. Nämlich ernster, als es ist. Oder richtiger: an der falschen Stelle ernst. Denn ein ernster Umstand ist meist sehr demütig-unscheinbar. Kein Trommelwirbel, kein einfahrender Blitz - einfach so und so. Man darf sich also fragen, welche Art Mensch sich an die einzelnen Erscheinungen des Lebens so klammert, daß sie nicht immanent wirken, sondern explizit ihr Schild aufdrängen, was sie zu sein hätten. (Entsprechend "moralisch", ja: Moralpropagandistisch sind ja auch heute die meisten Filme.)
Aber das Leben ist nie auslotbar ... und es kann manchmal "kitschiger" sein als der kitschigste Film. Es ist (in den menschlichen Handlungen) nämlich alles andere als "adäquat".
Es ist aber immer motiviert. Und diese Motivation aber, die ist nicht nur jedem unwiederholbar eigen, die ist ja das Rätselhafte am Menschen. Und Kunst ist nicht deshalb Kunst, weil sie eine bestimmte Wahrheit darstellt, die ohnehin jedem klar ist, sondern weil es das Leben von einem unwiederholbaren Standpunkt aus darstellt und damit etwas sichtbar macht, weil beleuchtet, das höchst individuell ist. Sondern diese Motivation ist meist ein gar nicht sichtbares, nur ahnbares Gefährt, das im Hintergrund schiebt, aber immer fühlbarer wird, bis es - und das heißt Drama - am Schluß erst ihr Gesicht zeigt, so daß es der Zuschauer in sich erfaßt, und zwar wieder vielleicht nur: indirekt. Gleichgültig, ob es auch nur irgendjemand sagt, oder, und das sind meist die besten Dramen, nur in sich schweigend, weil unnennbar, erwägt.
*260210*
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