"Viele Leute tun so, als wäre dieser Anspruch, den wir erheben, daß nämlich alle Dinge poetisch sind, eine bloße literarische Finesse, ein Spiel mit Worten. Das genaue Gegenteil ist richtig. Literarisch, bloßes Worterzeugnis, ist die Vorstellung daß es nichtpoetische Dinge gibt.
[...] Das Wort Briefkasten ist unpoetisch. Aber die Sache Briefkasten ist keineswegs unpoetisch; er ist der Ort, dem Freunde und Liebende ihre Botschaften anvertrauen, wohl wissend, daß es, wenn es geschehen ist, die Botschaften sakrosankt sind und niemand, nicht nur die and'ren nicht, sondern nicht einmal (welch religiöser Zug!) man selbst, sie mehr anrühren darf.
Die rote Briefkastensäule [oder: der gelbe Briefkastenschrein; Anm.] zählt zu den letzten Tempeln. Einen Brief einwerfen und heiraten - dies beides gehört zu den wenigen Dingen, die noch durch und durch romantisch sind; denn damit etwas vollkommen romantisch ist, muß ihm Unwiderruflichkeit eignen.
Wir halten einen Briefkasten für prosaisch, weil sich nichts auf ihn reimt. Wir halten einen Briefkasten für unpoetisch, weil wir ihn nie in einem Gedicht auftauchen sehen. Aber das Ding selbst ist ganz auf seiten der Poesie."
G. K. Chesterton, in "Über Mr. Rudyard Kipling und die Verkleinerung der Welt"
*200210*