Als Stalin von seinem Geheimdienst im Frühjahr 1945 die Information erhielt, daß Karl Renner (in Gloggnitz bzw. Baden) aufgetaucht sei, samt dem Modell einer Regierung, und daß man hoffe, mit ihm das Modell einer Volksdemokratie in Österreich einrichten zu können, rief er aus: "Was, der alte Verräter lebt immer noch? Er ist genau der Mann, den wir brauchen." In der sowjetischen Parteigeschichte, vor allem jedoch in den Schriften Lenins, ist der am rechten Flügel der Sozialdemokraten großgewordene Renner seit eh und je schlecht weggekommen. "Renner ist," schrieb Lenin, "einer der verächtlichsten Lakaien des deutschen Imperialismus."
Bei den Staatsvertragsverhandlungen 1955 tauchte ein bis dahin der Öffentlichkeit unbekannt gebliebener Brief auf, den Renner am 15. April 1945 an Stalin geschrieben hatte. Der an Seine Exzellenz Marschall Stalin, Moskau adressierte Brief beginnt mit Sehr geehrter Genosse, und darin heißt es unter anderem: "Die österreichischen Sozialdemokraten werden sich mit der Kommunistischen Partei (KP) brüderlich auseinandersetzen. Daß die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist unfraglich und bedarf keiner Betonung."
Natürlich muß man Renner hier den realpolitischen Zwang zu devotem Taktieren zu gute halten, immerhin antwortete Stalin in zufrieden-freundschaftlichem Ton, und meinte in seinem Brief: "Sie können sicher sein, daß ihre Sorge für die Unabhängigkeit, Gänzlichkeit und das Wohlergehen Österreichs auch meine Sorge ist." Das war nicht unwichtig, denn zur selben Zeit versuchte Tito, sich in Kärnten Gebietsansprüche zu sichern. Und die SPÖ hat - für manche sogar: zuviel - alles unternommen, um sich vor allem zu Zeiten der Besetzung, bis 1955 also, deutlich von der Kommunistischen Partei abzugrenzen, und innerparteilich den kommunistischen Flügel (eine nie zu beseitigende Widersprüchlichkeit der Sozialdemokraten, die ja nur einen anderen, moderateren Modus Vivendi zur Diktatur des Proletariats im Sinne Marx' suchten) abzudrängen.
*130210*
