"Karl V. war der Erbe - für damaliges Maß - unermeßlicher Länder. Wissen wir noch, außer in bürgerlich-materieller Verzerrung, was ein Erbe ist, welchem Bewußtseinsinhalt dieser Begriff einst entsprach, welcher Gewißheit, welcher Verpflichtung?
Wenn wir die Tonbüste des Knaben Karl betrachten, die in Brügge aufbewahrt wird, das Bildnis des 'Kindes von Gent', wie sie ihn nannten, so trifft uns die Prägung eines Menschen, der dank dem Zusammenwirken einer Geschlechterfolge, deren Streben in jedem einzelnen Ahnen auf Herrschaft ausgerichtet war, nun zu äußerster Stilisierung gelangt ist.
Wir gewahren Prägung durch die Rasse, deren Wesen es ist, die von ihr Bestimmten auch vom leisesten Zweifel an der Berechtigung ihrer sie absondernden Merkmale freizumachen. [Und das ist identitäre Eigenschaft jedes Standesmerkmals - jedes Berufes, jeder Familie, jeder Sippe, jedes Volkes ...; Anm.] Diese Prägung übt in bestimmten Geschichtsepochen zaubermächtige Wirkung aus, aber stets nur so lang, als sie in sich selbst diese völlige Gewißheit besitzt, denn im Augenblick, in dem die leiseste Frage, die erste Unruhe sie berührt, ist ihre Wirkung endgültig gebrochen, es gibt dann kein Zurück mehr, es gibt keine haltbaren Restaurationen. Ein Bild aus Ton liegt dann zerschlagen im Staub.
Die Menschheit hat lange gelebt, indem sie sich nach hohen Bildern zu formen suchte. Sind die Bilder einmal gestürzt und zerstückelt, dann erscheinen ihre Reste nur noch als die Trümmer einer Lüge und einer Ungerechtigkeit, die zu lange gedauert hat.
Zeiten aber, in denen der Mensch das richtunggebende Vorbild ablehnt, die gestufte Norm verweigert, werden die nackte Gewalt, die Umwandlung aller Formen in entfesselte Energie erfahren."
Carl J. Burckhardt in "Gedanken über Karl V."