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Sonntag, 28. Februar 2010

Wie alles kam (7)

Was sich in der Nachkriegszeit Österreichs abspielte und wahrlich nicht bei Null begann, ist natürlich keineswegs einmalig in der Geschichte - weder des Landes, wie überhaupt. Und ehe wir mit dem rein "historischen Faktenläufen" (wie schwer es da wird, die Begriffe zu wählen, wenn man einmal begriffen hat, daß es immer um eine einzige Gegenwart von Antrieben, Motiven, und Freiheit geht, deren Höhe erst überhaupt eine Aussage zulässig macht), dem Ablauf der (immer ausgewählten, als geschichtsmächtig angesehenen) Geschehnisse in Österreich fortsetzen, die uns auf einen bestimmten Punkt bringen sollen, der etwa in den mittleren 1970er Jahren liegt, ab dem eine Entwicklung eine Reife gewonnen hatte, die die folgenden Jahren nur noch zur Folgetragung machten, weil wirklicher Entscheidungsraum, auch durch die Menschen, die nun "geformt" waren, kaum mehr existierte, ehe wir also mit dem "Fortgang der Dinge" weitertun, wollen wir neuerlich etwas einschieben.

Das uns helfen soll, das, was da geschieht, noch besser begreifen und einordnen zu können. Denn wozu sonst sollten wir es tun? Erst damit können wir für unser Hier und Jetzt gewinnen, weil wir seine Genese verstehen, ja aus der Geschichte überhaupt erst dieses Heute erkennen!

Es soll in diesem Schritt also weiter Luft geholt, sollen Daten zu Fakten, und sei es unbewußt, geadelt werden oder werden können und dem geneigten Leser nicht vorenthalten bleiben, was Joachim Fernau zur "goldenen" Zeit sagt - und zwar jener der rund dreißig Jahre der Regierungszeit des Perikles im "demokratischen" Athen (ab ca. 460 v. Chr.) sagt. Die man gerne als die wirklich große Zeit der Griechen, in Wohlstand und Glück, darstellt.

Die Töne freilich, mit denen diese Epoche kommentiert wird, sind zu dieser Vergoldung denn doch deutliche ... wie sagt man? Konnotationen?

[Perikles'] Geist war geformt, aber nicht befruchtet; sein Herz weit, aber ohne Sehnsucht. Er hatte Temperatur, die die Menge zu allen Zeiten als warm und der wirklich Warmherzige als lau empfindet. Seiner musischen Natur verdanken wir die Schätze Athens - dennoch war diese Natur ohne Feuer. Er erwärmte sich an der Kunst, aber er brannte nie. Er war nie ganz im Himmel. Er besaß einfach ein glückliches Naturell und eine glückliche Hand.

Interessant wird es nun, wenn man die Charakterisierung seiner Regierungszeit liest - Ähnlichkeiten und Anspielungen auf Lebende oder Gelebt-Habende und Bestehendes keineswegs zufällig und unabsichtlich. Es war eine Zeit, in der die (zufließenden, nicht die erarbeiteten!) Geldmittel schier unerschöpflich waren, der Anteil der vom Staat Gestützten oder Bezahlten stieg und stieg.

Wohl, so Fernau, habe man den einzelnen Menschen so vorgefunden, wie man ihn aus Väterzeiten kannte, "überall begegneten einem die Männer alten Schlages, der eine ein Solon, der andere ein Mensch wie Aristides, dieser Geflügelhändler ein wahrer Odysseus, jener ein Schuster, ein Megakles, eine Menge fröhlicher Theatraliker, liebenswerter Flunkerer gegenüber dem Leben, Bummler, Gaffe, Schwätzer, Komödianten ... So waren sie als Einzelne."

Aber es war wie ein Auftrieb aus früheren Wurzeln, Frucht anderer Zeiten! Denn: als Masse hatten sich die Athener längst verändert. Früher war man eine Art Burggemeinschaft gewesen, ein stabiles Gefüge; jetzt war man eine Großstadt, mit einem riesigen Proletariat, labil, unüberschaubar, anonym. Wo einst der Schuster in der Gasse gesessen und die Sandalen des Herrn Kleophanes [...] genäht hatte, da saßen jetzt zehn Gesellen wie an einem Fließband; der eine schnitt nur noch die Sohlen zu, der andere die Riemen, der dritte nähte, der vierte färbte [...] Den Schuh hatte "niemand" gemacht, so wie nun die Politik "niemand" gemacht hatte. Und keiner erfuhr je, wer den Schuh trug. Man lieferte dem Meister kein Werk mehr, man liefert ihm Arbeitsstunden. [...] Niemand liebte mehr die Arbeit, [sondern alle leisteten ihren Job:] man empfing seinen Lohn und ging.

Wenn sich früher der Färbergeselle zum Panathenaia-Fest herausputzte, so wollte er die Göttin ehren und das Bild der Straße verschönern. Wenn er es jetzt tat, so wollte er Mimikri treiben; er rechnete mit seiner Anonymität in der Masse und wollte für einen anderen genommen werden. Er sah mit Kopfschütteln auf die [...] Sklaven herab, [wenn sie abends singend in die Weingärten zogen] während er selbst ein anderer Mensch wurde und durch die Barbierstuben und Parfümerien schlenderte. [...]

Er sah, daß die Dinge nicht mehr fest standen, sondern im Fließen waren; er sah, wie das Leben jetzt Lotterie spielte; bald vergaß er, daß es eines Einsatzes bedurfte, er glaubte, das Los müsse jeden treffen. Aus der Hoffnung wurde eine stumme Forderung; aus der stummen eine laute. Der Mann aus dem Volke war unzufrieden geworden!

Athen war voller Unzufriedenheit. Niemand aus der Masse besann sich mehr auf die Vergangenheit, ja auch nur auf das Gestern. Rückständige taten das, Reaktionäre. Man mußte sie belächeln, besser: hassen. Gesteigerte Zuversicht in den nächsten Tag, das war die neue Lebenskunst.

[...] Alle quatschten in die Politik hinein, heute fällten sie eine gefährliche Entscheidung, morgen stießen sie sie um, übermorgen hatten sie die Lust verloren [...] Wenn das Geld knapp wurde, forderte man höhere Löhne. [Erstmals gab es "Streiks"!]
Perikles führte für alle, die in den Ausschüssen oder Räten [saßen] "Tagegelder", Diäten ein, die zum Leben ausreichten. Infolgedessen drängte sich ein riesiger Haufen von Eckenstehern und Tagedieben zum "Regieren", eine Ansammlung von finsterstem Plebs.

[...] Wer da noch arbeiten wollte? Fremde und Sklaven. Über den [Hafen] wurde herangekarrt, was gebraucht wurde.
Die Staatsausgaben übertrafen längst die Einnahmen. War es nicht einfach? War es nicht eine Lust zu leben? Wer an das große Erwachen glaubt, war ein Faschist oder Kommunist.

Und all die herrlichen Kunstwerke aus dieser Zeit? Fernau: Ich pfeife auf alle Herrlichkeiten aus Marmor, wenn sie zu Grabbeilagen eines Volkes werden! [...] Das Gejohle, das Lachen der Masse, die Lust an der sausenden Talfahrt [...] sind ein scheußlicher Anblick.Alle aber klammern sich umso mehr an das Zauberwort - den Fortschritt. Der Wahn vom "Fortschritt" ist, philosophisch gesehen, ein Denkzwang, der aus einer seelischen Erkrankung kommt. Er tritt epidemisch auf, und zwar immer dann, wenn die Lebenskraft eines Volkes sich zu erschöpfen beginnt. Man findet ihn bei jedem Kulturkreis, jedem Folk, jeder Rasse. [Die Gehirne der Massenmenschen] verkraften ihr plötzliches Empfinden für große Dimensionen, für Weite, Zeit und Entwicklung nicht; sie verlieren den Halt, sie verlieren das, woran sie sich halten konnten, sie werden haltlos. Sie haben den Sinn im Kleinen verloren, und sehen keinen im Größeren.

Der wahre Inhalt des Fortschritts ist Wechsel. Mit Qualitätssteigerung hat er nichts zu tun [...] Auch ein im Kreise drehen wird von der erkrankten Seele durchaus als Fortschritt empfunden [...] Die kranke Seele konsumiert die Bewegung, den Wechsel wie eine Droge! Zustände, die zuvor von Dauer waren und auch von Dauer sein sollten, werden jetzt am laufenden Band "verbraucht". Der Fortschrittler ist - vergessen Sie diesen Satz nie mehr - ein Verbraucher!

Und damit sind wir bei einer entscheidenden Erkenntnis: Fortschritt ist Umsatz. Und zwar nicht etwa "eine Art Umsatz", sondern er ist das Prinzip des Umsatzes schlechthin. Genauso wie beim Kaufmann. Es ist identisch mit dem merkantilen Begriff.

Daher ist die Wirtschaft auch der "Mäzen" des Fortschritts. (Und der Todfeind des biblischen Paradieses.) Mit einer Fortschrittsepidemie geht stets eine Wirtschaftsepidemie parallel.
Und selbstverständlich war das fortschrittliche Athen stolz darauf! Ja: Im Zustand des Fortschrittswahns wird die Menschenseele tyrannisch. Sie verlangt, daß sich ihr jedermann im Fortschrittsglauben anschließt. Obwohl sie kein Heil weiß, gebärdet sie sich als Heilskünder.

Weshalb Athen alle, Freunde wie Feinde, aufforderte, dieselbe Verfassung, dieselbe Lebensform, dieselbe Wirtschaft anzunehmen; daß es die nicht Folgsamen zuerst als rückständig belächelte, dann anprangerte, und schließlich bekämpfte.

[...] Es war nichts als die Angst vor dem Alleinstehen, der angstvolle Wunsch der wurzellos gewordenen Massenseele nach Bestätigung. Vielleicht mehr: der Wunsch, Vergleichsmöglichkeiten zu vernichten. In solchen Wünschen leben heute ganze Erdteile. Allerdings ohne Parthenon.
Sie wollen wissen, wie es damals weiterging? In Athen? Es stürzte unmittelbar nach Perikles, nach diesem "goldenen Zeitalter" des Wohlstands, in einen schier endlosen, sinnlosen, verwirrenden 30jährigen Bürgerkrieg mit dem großen zweiten Spieler auf der griechischen Halbinsel, Sparta, jeweils samt Verbündeten, an dessen Ende auch das Ende des "großen" Griechenland stand. Bis es von den Römern aufgesogen wurde, und schließlich weitgehend - über Byzanz und die Türken - von der Bildfläche verschwand. Das "goldene Zeitalter" war ... das Vorspiel zum Ende gewesen.

Als Perikles erst zurücktrat und dann, als Legende seiner selbst sich selbst überlebend weil zurückgeholt, endgültig starb, stellte man fest: es gab keinen annähernd gleichwertigen Nachfolger von Format! Fernau dazu: Alte despotische Naturen fühlen sich unter Nullen wohl.Natürlich gab es dann einen Nachfolger, und zwar "einen aus dem Volke" - das in Kleon erstmals in Reinkultur auftrat! Freilich verhöhnte man seine Einfachheit, schimpfte man ihn "Demagogen". Aber war das so? "Kleon trug vollkommen ehrlich seine eigenen niederen Regungen vor, sie deckten sich mit denen der Masse. Er hielt sie auch nicht für niedrig, er hielt sie für prima. Daher sein Mut zur Konsequenz. Er war brutal, undiszipliniert [...] aber so ist eben die Masse: Sie reißt sich nur zusammen, wenn etwas weh tut.

Kleon,
schließt Fernau, war ein Prolet. Er war die Quittung für die Nullen, die ein alter Mann, der zu lange und zu monoton regiert hatte, hinterließ.



Zitate entnommen aus: Joachim Fernau "Rosen für Apoll - Die Geschichte der Griechen"