Die echte Wirklichkeit der Erde hat keine Gestalt, keine Lebensform, ist ein reines Rätsel. In ihrer ursprünglichen und nackten Konsistenz begriffen, ist sie der Boden, der uns im Augenblick traegt, ohne dasz er uns die geringste Sicherheit dafür böte, dass er sich nicht im nächsten Augenblick versagen wird. Er ist es, der uns die Flucht vor einer Gefahr erleichtert hat? er ist es auch, der uns in der Form der Distanz von der geliebten Frau und unsren Kindern trennt? er ist es, der manchmal den Charakter des mühsamen Bergauf und manchmal die angenehme Beschaffenheit des Bergab aufweist.
Die Erde an sich und losgelöst von den Ideen, die der Mensch sich von ihr gebildet hat, ist also kein "Ding", sondern ein unsicheres Repertoire an Erleichterungen und Erschwerungen des Lebens.
Die älteste Interpretation von dem, was die Erde ist, schimmert durch die Etymologie des Wortes hindurch. Tierra, terra, so scheint es, kommt von tersa, was soviel wie das Trockene, d. h. das Feste, wo man Fusz fassen kann, besagt. Im Rahmen dieser primitiven Interpretation der Erde ist diese - wie man sieht - mehr dadurch definiert, was uns mit ihr - im Gegensatz zu einem flüssigen Element - widerfährt.
In diesem Sinne sage ich, dass die echte und ursprüngliche Wirklichkeit keine Gestalt besitzt. Daher ist es nicht zutreffend, sie Welt zu nennen. Sie ist unserer Existenz als Rätsel vorausgesetzt. Sich lebend zu fühlen, heiszt, sich unwiderruflich ins Rätselhafte eingetaucht zu fühlen.
Auf dieses ursprüngliche Raetsel, das seinem intellektuellen Leben vorhergeht, reagiert der Mensch, indem er seinen intellektuellen Apparat spielen lässt, der vor allem anderen Einbildungskraft ist. Er erschafft die mathematische Welt, die physikalische Welt, die religiöse, moralische, politische und poetische Welt, die tatsächlich "Welten" sind, weil sie eine Gestalt besitzen und eine Ordnung, einen Plan darstellen.
Diese imaginären Welten werden dem Rätsel der echten Wirklichkeit gegenübergestellt und werden als wahr angenommen, wenn sie sich dieser in größter Annäherung anzugleichen scheinen. Aber, wohlverstanden, niemals verschmelzen sie mit der Wirklichkeit selbst.
Ortega Y Gasset, Vorlesungen zur "Historischen Vernunft"
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