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Freitag, 10. Januar 2025

Das verlängerte Sterben

Wahrscheinlich ist es heute nur bei Schiffen des Westens so, daß die Besatzungen schwimmen können. Weil es nur dort zu den Üblichkeiten eines Aufwachsens gehört, schwimmen zu lernen. Weil nur dort Kindheit und Jugend als eigene Lebenswelten gesehen werden.

Der Weg des Menschen ist also im Westen nicht primär der, in die Welt - die eine Welt der Erwachsenen, ja der Männer ist - hineinzuwachsen, und unter gewissem Druck von Notwendigkeit die Fähigkeiten zu entwickeln, die auf einen Platz in der Welt ausgerichtet sind. Der im Grunde von der Geburt und der Herkunftsfamilie als erster Raum des Gebrauchtwerdens bestimmt wird. Im Westen wird die Kindheit seit zwei-, dreihundert Jahren (allerhöchstens, wobei in manchen sozialen Grüppchen auch bis heute kaum) 

Aber nach wie vor ist es in große Teilen der Welt so, daß - wie früher auch bei uns - Seeleute WEIL DIE KINDER NICHT schwimmen können.
Ja, nicht nur das. Sie SOLLEN es auch gar nicht können.
Deshalb würde kaum ein Hilfeprogramm der berufenen Weltretter Europas überhaupt erst angenommen werden. Wer immer nämlich darüber reflektiert - und die Seeleute sind es, die das wohl zuerst und am tiefsten tun - wird an so einem Programm nicht teilnehmen, es überdies sogar als kontraproduktiv ansehen.

Um das zu erklären, sollte man zuerst der Tatsache ins Auge blicken, daß die Chance, durch das Schwimmen eigenes oder fremdes Leben ZU RETTEN, wenn Sturm bzw. Wellen oder andere Umstände das Schiff als schwimmenden Weltboden entziehen, in so wenigen Fällen möglich ist, daß die Vorstellung, das Schwimmen würde prinzipiell Leben retten, eine zu hinterfragende, romantische Vorstellung ist. 

Denn in den meisten Fällen trifft das nicht zu. Kaum ein Seemann konnte je durch das Schwimmen sein Leben (oder das seiner Kameraden) retten.

Ja, schwimmen zu können könnte sogar von einem Prinzip ablenken, das auch als Überlebenschance vor das Schwimmen zu reihen ist - nämlich sich an das Schiff oder an Teile davon (Planken, Ladegut usw.) zu klammern. Von Rettungsbooten willich dabei absehen, schon gar, weil historisch auch hier derselbe Gedanke herrscht, daß hinlängliche Rettungsboote--Ausrüstung  die Bereitschaft, das Schiff deutlich vor jenem Punkt aufzugeben, an dem das notwendig wäre, ein Kalkül bedeutet. 

Der Eigner des Schiffes hat oder hatte in einer Zeit, in der Versicherungen nicht so üblich waren, sondern das Risiko individuell blieb, größtes Interesse daran, daß die Mannschaft eines Schiffes so lange wie möglich darum kämpfte, daß das Schiff nicht unterging. 
Bei versicherten Schiffen besteht hingegen die Gefahr, daß es in bestimmten Fällen sogar umgekehrt ist. (Das Fass der "Titanic" und ihrem Schwesterschiff möchte ich hier jedoch nicht aufmachen. Wo diese Frage eine bemerkenswerte Rolle spielen könnte. Zu schön ist die Geschichte, mit der wir alle aufgewachsen sind.)
In jedem Fall ist es eine Mär, daß in erster Linie die Schiffseigner an einer Mannschaft interessiert wären, die nicht schwimmen kann. Denn unter Umständen verdient ein Schiffseigner an einem gesunkenen Schiff (und ertrunkenen Matrosen) mehr, als wäre die Fracht angekommen. 
Wir sollten beim Wort Schiffseigner jedoch nicht an fette, zigarrenrauchende Reeder denken, die jeden Abend in den Club in der Teemtemansstraat in Rotterdam gehen. Sondern eher an den Seemann selbst, als Eigner des Schiffes oder Bootes, auf dem er sich aufs Meer hinaus wagt. Ich wage sogar die Wette, daß weltweit gesehen bei weitem, wirklich bei weitem diese Form der Schiffseignerschaft überwiegt. Ja daß man sogar von einer Regel sprechen könnte, daß die Schiffe auch jenen gehören, die auf ihnen aufs Meer hinaus fahren.
Weltweit leben 1 Milliarde Menschen praktisch NUR von dem, was direkt von und an der Küste aus dem Meer geholt wird.
Zum Teil einfach, weil sie ihr täglich Brot daraus holen, zum Teil, um damit dann Handel zu treiben.

In jedem Fall gefällt mir der Gedanke sehr, den man darin so schön sieht: Daß nämlich NACH WIE VOR der Großteil der Menschheit von Dingen lebt, die der Natur einfach abgenommen werden. Ja ich behaupte sogar, daß es überhaupt nichts gibt, das wir NICHT der Natur EINFACH ABNEHMEN. Wenn auch nicht einfach so, sondern mit Mühr, der "Arbeit". Das erinnert nämlich ans Paradies, an den ersten Zustand der Schöpfung. Die Erbsünde hat dann lediglich unser Verhältnis zu einem Urzustand verändert. Aus dem ursprünglichen "Einfach nehmen", wurde dann "unter Mühe, Schweiß und Fluch." Geblieben ist aber jene Grammatik der Schöpfung, in der alle Lebewesen VON DER SCHÖPFUNG leben. 

Die obgenannte Zahl freilich hat mich beeindruckt. Denn natürlich sind das eine Milliarde Menschen, die rein zahlenmäßig eher aus nicht so hoch zivilisierten Regionen stammen, wie (vergleichsweise) Amsterdam, Hamburg, La Rochelle oder Saloniki. Sondern die an den vielen tausenden Kilometern langen Küsten Afrikas, Asiens, Südamerikas und Ozeaniens leben. Diese Menschen haben sicher nicht vergessen, daß die Grundvorgänge in der Natur in JEDEM Fall so sind, daß sie uns am Leben halten, wenn auch mit Mühen. Sie wissen sicher noch, daß es deshalb keinen natürlichen Vorgang gibt, der ihnen verboten ist - wie das Verbrennen, die erste Energiequelle alles Lebenden.

Aber dies vor Augen, gibt es einen Grund, nicht schwimmen zu lernen und DENNOCH auf See zu fahren, den ein schottischer Fischer so auf seinen Punkt brachte: 
Wenn das Schiff untergeht, ist die Chance, sich auf Dauer durch Schwimmen zu retten, praktisch nicht vorhanden. Deshalb verlängert das Schwimmen im Ernstfall nur das Sterben.
Das erinnert so an die Sterbehilfe, also das Abkürzen eines Leidens. Also müßte es doch dem Menschen dieser Zeit recht gefallen? Denn ich erinnere das Resultat einer Umfrage, in der die Menschen unter anderem gefragt wurden, wie sie denn am liebsten sterben würden. Die dabei weit überwiegend gehörte Antwort fand ich erstaunlich. Denn die allermeisten Menschen möchten einen raschen, schmerzlosen Tod. Und deshalb wird auch die Sterbehilfe bei sehr vielen Menschen begrüßt. Sie gleicht dem Nichtschwimmen beim Untergang des Schiffes. 

Im Meer zu ertrinken, unmittelbar beim Hineinfallen zu versinken, weil man sich nicht an der Oberfläche halten (weil nicht schwimmen) kann, damit vielleicht Stunden einen Kampf zu verweigern, der in jedem Fall mit dem Tod endet, gehört ganz sicher nicht zu den schmerzhaften langen, sondern auf jeden Fall zu den raschen, eher schmerzfreien Todesarten. 

Denn je nach dem, wird man nach vielleicht zwei Minuten ohnmächtig (in denen man auch nicht Wasser schluckt, weil man den Mund lange geschlossen halten kann, vielleicht sogar willentlich stark genug ist, um auch den letzten Ansturm des Vegetativen abzuwehren), um dann nach fünf Minuten tot zu sein. Und das sind ja wirklich keine Ewigkeiten. 

Ich staune immer wieder, wie rasch zwei oder vier Minuten vergehen, die ich am Handy einstelle, weil ich Tee aufgegossen habe. Der Gang von der Küche zum Schreibtisch lohnt fast nicht. Kaum sitze ich, muß ich schon wieder an die Spüle, um die Teeblätter abzuseihen.

Würde ich mir aber einen so raschen Tod wünschen? Als zwei oder vier oder sechs Minuten. Von der Gewißheit an gerechnet, daß alle Planken verschwinden, auf denen ich gestanden bin, bis zu meinem Tod? 

***

Möglicherweise kommt es im Leben nämlich gar nicht darauf an, zu überleben. Sondern darauf zu schwimmen, so lange man es nur vermag. Darauf, keinen Moment daran zu denken, was das sichere Ende ist - der Tod - sondern sich an der Oberfläche zu halten, so lange es nur irgendwie geht.

Darin drückt sich das aus, was sich im ersten Moment unseres Daseins zeigt: Nicht wir zeugen unser eigenes Leben, sondern - auf der natürlichen Basis der Elternschaft - tritt das Leben in diese Welt. Und die Quelle, die uns dieses Leben (das nicht wir SIND, sondern das wir haben) gibt, nennen wir Gott, das Sein. Und wir leben so lange und so intensiv, wie wir an diesem Gott, an diesem Sein teilhaben. 

Deshalb leben wir, so lange wir auch die Art des Zugangs zu diesem Gott pflegen, in der er uns dieses Leben schenkt. Jeden Atemzug pflegen wir also eine Eigenschaft, die uns - praktisch nicht bewußt - in einer Haltung des gehorsamen Bittens das entgegennehmen läßt, was Gott uns gibt. Leben. 

Aber dieses Geben ist kein Akt, der für sich steht. Sondern es dient einem Zweck. Es hat einen SINN. Es wird uns gegeben, weil wir damit etwas anstellen sollen. Es selbst ist uns unzugänglich. Wir können nicht darüber verfügen! Wir können es nur hegen, bejahen, dann bleiben wir im Bestand. Und wir bejahen es, indem wir es für den richtigen Zweck einsetzen - den Sinn.

Wir sind also nicht dafür verantwortlich, daß es bestehen bleibt, sondern daß wir damit das Sinnvollste anstellen, das in ihm möglich ist. Weil wir damit auch dieses Leben entgegen nehmen. 

Und so liegt es auch nicht in unserem Kalkül, abzuwägen, was im ernstesten der Ernstfälle (rein innerweltlich gesehen) geboten ist. Schwimmen, obwohl wir ganz sicher sterben. 

Vielmehr zerfällt in der Bedrohung - und parallel zu ihrer Zunahme - das Leben in kleinste Zeiträume. Bis dieser Zeitraum so klein ist, daß überhaupt kein Kalkül mehr bleibt, das über diesen kleinsten Moment hinausgeht. Und nur noch "schwimmen" bleibt, um diese Bitte um Leben zu erfüllen. 

Die Sinnfrage verhält sich somit analog. Sie schrumpft, bis auf kleinste Größe. Und dann bleibt nur noch ... zu schwimmen, so lange und so gut wir können. Weil es auf jeden Moment ankommt, und jeder Moment den Sinn erfüllen muß. Ob das irdische Nutzen-Zusammenhänge erfüllt, wie WIR sie uns vorstellen, ist dabei vollkommen irrelevant. Der wahre Sinn unseres Lebens reicht unermeßlich weit über jede Überlegung hinaus, die wir anstellen können. Weil uns unser eigenes Leben unendlich (das heißt nicht erfaßbar) übersteigt.

Deshalb können wir dieses Urteil gar nicht fällen, ob das, was wir zu tun haben auch unseren letzten Sinn erfüllt. Davon müssen wir ausgehen! Soll nicht alles in Sinnlosigkeit versinken. Und so verhält sich die Welt nicht. So verhält sich kein Lebewesen. Vielmehr kämpft jedes Lebewesen bis zum allerletzten Moment, das zu erfüllen, das das Leben aus Gott in die Welt - äber sich als Träger - einströmt. Noch der simpelste Käfer würde, wäre er ins Wasser gefallen, das Schwimmen erlernen, hätte er die Wahl, und sei es, daß er damit nur fünf Minuten Leben gewänne. 

Eine Viertelstunde auf wilder See, in immer schwächerem Schwimmversuch zugebracht, mit der Gewißheit eines sich langsam nähernden Todes, kann zudem jene Viertelstunde sein, in der sich uns die alles entscheidende Frage erstmals in voller Ernsthaftigkeit stellt, und wir sogar noch genug Zeit haben, um unsere finale Antwort zu geben. Denn Gott ist sogar in unserem Schatten, und vielleicht sehen wir ihn darin erstmals erst in dieser letzten Viertelstunde. Wenn sich er Schatten unseres Lebens immer mehr verkürzt.

So können wir dann auch sagen, daß die Rechtfertigung für den Seemann, nicht schwimmen zu lernen, weil das nur den Tod verlängere, eine gottferne, ja furchtbare Antwort ist. Und die See ist - leider - auch ein Ort dieser Gottesferne. Immer gewesen. Immer war die See auch eine See des Davonfahrens - und laufens. Der Flucht. Vor allem auch der Flucht vor sich selbst. Die Merkmale und Eigenschaften der Matrosen, wie wir sie erzählen und erzählt bekommen haben, sprechen Bände davon. Und oft genug zeigt sich darin eine Flucht genau vor dieser Sinnfrage. 

Und es ist eine Welt der Versuche, dennoch irgendwo Halt auf einem Boden zu finden, den aber nur flüchtige Schiffsplanken bilden. Die Welt auf See ist also eine Welt der Illusion, der Vorläufigkeit. Kein Schiff bleibt ewig auf dem Wasser, immer ist der Aufenthalt zur See vorübergehend, einem Sinn untergeordnet. Irgendwann hat die See selbst nämlich alles verhaucht, das sich auf ihr zu halten versucht.

So, in einer Welt der Illusion, der Täuschung und eigenmächtigen Selbstbehauptung, der so viele Seeleute durch fleischgewordene Behauptung (die See ist also eine Welt des Etiketts; es waren in erster Linie die Seeleute, die sich tätowiren ließen, das heißt ihren Raum und ihre Identität wie in Etiketten auf ihre Haut ritzen ließen; mehr Welt besaßen sie nicht) hohnsprechen wollen, wird mit diesem Satz aber auch die letzte Geste eine des Trotzes. Eingebettet in eine jedes mal auf Raten und im Voraus bezahlter Sterbehilfe, wenn man die Gelegenheit ablehnte oder nicht suchte, das Schwimmen zu erlernen. 

Es verlängert nur das Sterben, wird damit zu einem trotzig ins Antlitz Gottes geschleuderten Satz. 

Der dem Wahn unterliegt, sich dem finalen Urteil, das man zu treffen hätte, durch willentlich erzeugten Mangel an Zeit entziehen zu können, sodaß einen Gott gar nicht mehr zu fassen kriegt. Weil man bis dahin längst auf den Grund des Meeres versunken ist. Und bis dorthin wird Gott doch wohl nicht kommen? 

Deshalb sollte ein Seemann auch schwimmen können. Denn vielleicht findet er so noch die Ruhe und Chance, auf die letzte Anfrage Gottes, die, die sich in den eigenen Schatten zurückzieht, eine Antwort zu geben, über die er in der Ewigkeit ziemlich froh sein dürfte. Weil uns der Tod nicht überrascht hat, sondern wir diesen letzten Lebensakt gleichermaßen erfüllt und ausgelebt haben: Zu sterben.  

Indem wir auch noch jene Bereiche in Gottes Hand und Erbarmung betten können, die uns erst in diesen letzten Minuten oder Stunden mit ihren Bedingungen des nahenden Weltverlusts zugängig werden.

In denen wir endgültig begreifen, daß wir uns vor dem Leben gedrückt haben, wo immer wir uns und dem Sein etwas vorgelogen und vor allem sogar uns selbst etwas verborgen haben, um einen Schein aufrecht zu halten. in denen wir Gott unseren Trotz entgegengeworfen haben, indem wir eine Antwort vor uns her summten, die unser Hören betäuben sollte. 

Um vor allem aber in unserem Schatten Dinge zu hören, die uns ziemlich sicher überraschen. Diese tiefsten Dinge aus dem Munde Gottes hören wir nämlich erst in jenem langsamen, allmählichen Absinken, in dem unser Körper die letzte Kraft verbraucht. Um dann endich die Hände öffnen zu können, in denen wir uns an Unsinn und Schein klammern, in denen wir uns selbst in der Welt halten wollten. Und so endlich endlich unsere Augen sehend machen.