Schon vor vielen Jahren habe ich es an dieser Stelle gesagt, aber vermutlich konnte sich keiner vorstellen, was das in der Realität bedeutet. Jetzt erleben wir es. Die Realität fliegt dem Westen förmlich um die Ohren.
Denn die westliche Kultur kann diese Zeit nicht mehr denken.
Das heißt, daß sie - daß wir - in einem Dschungel von Unwägbarkeiten sitzt, und nur noch verzweifelt um sich schlagen kann. Das erstreckt sich über alle Bereiche, von der militärischen Situation bis zum Wirtschaften, und bis in kleinste Bereiche der alltäglichen Lebensorganisation. Je tiefer das offizielle Denken - im Grunde deckungsgleich mit dem, was als wissenschaftlich bezeichnet wird (und das in der Regel gar nicht mehr ist) - in das offizielle Narrativ verstrickt ist, desto sicherer ist, daß es eine Realität nicht mehr einzuschätzen vermag und in seinen Entscheidungen falsch liegt. Das heißt, mehr Schaden verursacht als Probleme löst. Das einzige, was noch verwundert, ist, daß die vielen täglichen "Schadensmeldungen" noch nicht allgemein als Totalschaden erfaßt werden. Vielleicht ist das notwendig, denn der Schock, den das auslösen würde - so, wie die Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag einen ungeheuren Schock auslösen wird - würde vermutlich das Leben im Westen und global praktisch zum Einsturz bringen.
Aber niemand kann in so einem Chaos leben, das auch das Alltäglichste, das kleinste Mitmenschliche zertrümmert. Denn was die Welt immer noch auf den Beinen hält ist die ungeheure Kreativität und Leidensbereitschaft der einzelnen Menschen. Die immer noch weitgehend ausgleichen und durchtragen, was von oben her abgerissen wird.
So wenig wir es glauben wollen. Denn das ist der Grund, daß der Einzelne, der Mensch im Alltag, immer noch seine Pflichten erledigt, so gut er kann, und sein Leben zu leben versucht, das auf Säulen steht, die er immer wieder ausgräbt und instand setzt, so dicht auch die Bomben hageln. Und er tut es "ohne nachzudenken", ohne den Sinn seines Lebens zu hinterfragen, und das ist gut so. Denn so nährt er sich aus dem Wort hinter dem Wort, aus dem Sinn unter dem Sinn, der wirklichen Wirklichkeit. Und nicht dem Narrativ, das sich über alles dieses Alltägliche gelagert hat und luftdicht zu lagern versucht, denn dieses Narrativ ist unsinnig und falsch. Der Mensch des Alltags glaubt nicht, was diese Narrative als geglaubt oder zu glauben vorgeben. Dieses Narrativ bestimmt nur den Duktus des "zu Sprechenden" als das angeblich "zu Denkende".Und das spielt für den Menschen, der in seine engsten Lebensumfelder und -aufgaben eingebunden lebt, praktisch keine Rolle. Der Mensch der Gegenwart im Westen lebt in einem "Bückwarensystem", in einem Sytem, dem er es zwar nicht ausspricht, insofern nicht "denkt", aber in seiner Realität so behandelt: Dieses offizielle Denken, dieses Narrativ ist irrelevant. Und was zwischen Tür und Angel, beim Klatsch am Brunnenhof, in den Kaffeestuben und beim Jausentisch am Arbeitsplatz gesprochen wird, hat mit diesem Narrativ nur ganz beiläufig zu tun.
Denn es gilt, was W. Briggs als Titel seinem aktuellen Buch vorangestellt hat: "Alles, was wir glauben, ist falsch" Wobei mit "glauben" das gemeint ist, was wir imn herkömmlichen Narrativ als Annahme über die Wirklichkeit setzen. Praktisch nichts von dem, was wir glauben, daß die Welt so sei, ist richtig, ist wahr. Wir erleben in diesen Jahren, was das in der Realitätdes Lebens unserer Gesellschaften und Organisationen (Kultur bedeutet Institutionalisierung) bedeutet.
Aber anders als viele meinen - die praktisch sämtlich (siehe oben) von Annahmen über den Menschen ausgehen, die identsich mit dem herkömmlichen Narrativ sind, wenn sie nicht in einem Akt der Verzweiflung in Esoterik ("metaphysiklose Metaphysik") und irrationale Bezüge auf Gefühle und Intuitionen abgleiten, ja überhaupt ihre Vision eines besseren, schöneren Lebens auf solche Gefühltheiten beziehen - also anders als viele meinen ist eine Sanierung unserer Kultur NICHT von unten her möglich. Anders als viele meinen liegt die Sanierung unserer Kultur nicht beim Einzelnen, ermüsse sich nur getreu der Aufklärung ermannen, müsse "aufwachen", und es liege deshalb alles daran, die Massen "aufzuwecken".
Das sind Konzepte der Aufklärung, das sind Konzepte einer Revolution als allgemeinem Umsturz. Und sind schon deshalb falsch, weil sie das Wesen einer Gesellschaft nicht kennen, so, wie sie eben den Menschzen nicht kennen. Eine Besserung kann nur "von oben" kommen. Kein System läßt sich anders sanieren, es muß immer von obeh her saniert werden.
Das geht nicht? Das sei unrealistisch zu erwarten? Ich glaube das nicht. Ich glaube, daß es eine Sanierung von oben her gibt, und ich arbeite derzeit an einem umfassenderen Prosastück, in dem ich das herausarbeiten will. Dieser "fünfte Weg", wie ich es vorerst nenne, ist nicht einfach und keine Aufgabe, die ohne Tugend und Maß möglich ist. Aber sie ist möglich.
Nach dem Roman um die Muslima Yildiz habe ich nun also wieder eine theoretische Arbeit in Angriff genommen. Anders als bisher werde ich dabei diese Arbeit nicht in täglichen kleinen Stücken servieren, sondern als ganzes Stück komponieren.
Deus providebit.