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Dienstag, 10. September 2024

Morgenbetrachtungen (c)

Wo dann das Wort von Yildiz zählt. Diesem Roman, den nie zur Gänze zu veröffentlichen ich mich entschieden habe. Aber immer wieder tauche ich in ihn ein, und erlebe Situationen wieder, die Carlos mit seiner Muslima erlebt hat. 

Das aber wurde zu einem Schlüsselsatz in meinem Leben, über dessen Tiefe ich nachdenke, seit Yildiz ihn in ihrer entzückenden, schlichten Art von sich gegeben hat. Sie hat ihn in einer der Nächte das erstes mal geäußert, in denen wir beieinander lagen, und lange Gespräche führten.

(Aus dem 1. Band)

Wir schwiegen lange. Aber ich wußte, daß sie so wie ich mit offenen Augen dalag, und nachdachte.
 
"Gell, Carlos, nicht richtig ist wichtig," sagte sie irgendwann in die Stille hinein. Wobei mir auffiel, daß das so gar nicht unsicher, sondern ganz ruhig und sicher klang, als käme es aus einer ganz anderen Realität, in der sie sich befand.

Ich starrte sie an.

Sie begann zu erröten, wurde in dem Maß unsicher, als sie aus diesem Raum wieder in eine ganz andere Realität weil Welt herausstieg. 

Ein Hauch von Verzweiflung begann ihr Gesicht zu überschatten. Sie hatte sich endlich sicher bei mir gefühlt, und in einem daraus aufsteigenden Anflug von Mut selbst überstiegen, mit einem Wissen bepackt, das sie einfach in dieser Realität bekommen hatte, und sich damit einer Gefahr ausgesetzt, Falsches gesagt, gedacht, sich auf jeden Fall tief verwundbar gemacht zu haben. 

Und nun fürchtete sie plötzlich wieder das Schlimmste, das Herabfallen eines Richtschwertes. Aber ich war tief ergriffen, mehr noch erschüttert über ihre Unsicherheit, die, ich sah es klar vor mir, aus ihren bisherigen Lebenserfahrungen stammte. Ich nahm sie bei der Hand, und strich ihr so zärtlich ich vermochte über die Wange. 

"Mäuschen, du bist so klug."

Während ihr Gesicht die Farbe einer überreifen Erdbeere annahm, strahlte sie mich mit glücklichen Augen an. Ihr Kopf sank auf meine Brust, und sie preßte sich mit ihren Armen an mich, so fest sie nur konnte. 
"Du tust mich nicht weh, gell? Ich muß mich vor dich nicht fürchtigen." 
Tief atmete sie aus, als sendete sie ihre Seele den Worten nach. 
"Das ist so glückig. Ich habe dich so so liebig, und das ist so schön, daß ich mich nicht vor dir fürchtigen muß." Sie zögerte eine Sekunde, sagte es aber dann doch. "Und du hast mich auch liebig, gell, Carlos?" Ganz leise sprach sie noch nach, probierte die Sprache. 
"Liebig, sagt man liebig? Oder liebstig? Liebsten ..."
"Es heißt: Du hast mich lieb," half ich ihr. Unsere Augen trafen sich. 
"Ja, ich habe dich auch lieb."
Sie lächelte glücklich, legte dann ihren Kopf wieder auf meine Brust. 
Was sie das an Mut gekostet haben mußte. Zu sagen: Du hast mich lieb. Ich zog sie etwas hoch, und hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn. Dabei merkte ich, daß ihr Tränen aus den Augen gestiegen waren. Aber das waren Tränen des Glücks, wußte ich, und auf einmal war auch ich glücklich. Weil ich erstmals in meinem Leben das Gefühl hatte, einen Menschen glücklich gemacht zu haben. Ganz ganz dunkel, neblicht, ahnte ich plötzlich einen Weg, wie ich tatsächlich glücklich werden konnte. Es hatte mit ihr zu tun. Und mit dem, was ich bei ihr wollte. Sie einfach nur noch lieben.
"Nein, Mäuselchen, richtig ist nicht wichtig."
Sie ruckelte, als könnte sie sich noch fester an mich pressen, als sie es ohnehin schon tat. Nachdem ich einige Minuten so verharrt und nachgedacht hatte, merkte ich, daß sie eingeschlafen war. Sanft legte ich sie zur Seite. Sie nuschelte irgendetwas, und aus ihren Mundwinkeln lief ein kleines Rinnsal Speichel. Ich wischte es weg, strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie wachte aber auch dann nicht auf, als ich sie endgültig von mir herunterschob, und aufstand. 
Hatte ich zuviel gesagt, gedacht? 
Nein, es war so. Mein Leben war anders geworden. Vielleicht hatte die Begegnung mit diesem Mädchen sogar einen Irrtum korrigiert, an den ich mich mehr als dreißig Jahre geklammert hatte, obwohl er den Auftrag gehabt hatte, mich zu ersticken. 
Als die Sonne aufging, stand ich noch immer am offenen Fenster, und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Das Licht war in seiner Leichtigkeit so schön, und so zart, daß ich diese brutale Stadt gar nicht mehr registrierte, ja, sie war in diesen Minuten anders. Aber je schwerer das Licht wurde, desto nervöser wurde ich. Und mit einem mal erschien mir die Vorstellung annehmbar, daß ich das leise Schnarchen, das von der Matratze kam, als lächerlich und störend empfinden könnte. Ich sah auf die Uhr. Es würde noch drei Stunden dauern, bis sie ging. 
Da durchfuhr mich ein Stich in der Brust. Wollte ich denn überhaupt, daß sie ging? Daß sie jemals wieder gehen würde? Mein Gott, war ich wirklich so ein schändlicher Verräter? Alleine die Vorstellung, diesem zerbrechlichen Seelchen wehe zu tun, ließ mich verzweifeln. Ich packte mich im Schopf, schlug meine Stirn gegen die Fensterleibung, und brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Wie auf Zettelchen geschrieben und an Fäden von kleinen Flugzeugen durch die Luft gezogen, sah ich immer wieder diesen Satz vor mir. Gell, Carlos, nicht richtig ist wichtig. Und meine Stimme antwortete im liebevollsten Ton, dessen sie sich ermächtigen konnte. Du bist so klug, Mäuselchen.
Ich schloß die Augen, und hauchte in Gedanken ein Küßchen auf ihre weichen Lippen. Der obligate Speichelfaden in den Mundwinkeln machte mich lächeln. Ich drückte meine Zigarette aus, und schlich zur Matratze zurück. Wir hatten ja noch zwei Stunden.
"Sssu ssiss niss mehr wegig," nuschelte sie, mehr im Schlaf als im Wachen. 
"Nein," flüsterte ich. "Ich bin nicht mehr weg." 
Ich strich ihr durchs Haar. Sie versuchte, ihr Gesicht an mich zu schieben. Ich spürte ihren warmen Atem. Tapferes Mädchen, dachte ich. Auf sie wartete der nächste Arbeitstag, wo ihr nichts geschenkt werden würde. Und ich konnte nur ahnen, was sie zusätzlich wegen mir durchzukämpfen hatte. Sie sprach nie darüber, aber wieviel leichter hatte ich es dagegen. Wieviel Bedeutung hatte Sicherheit für sie. Ihr ganzes bisheriges Leben, so wenig ich davon wußte, sah ich vor mir, in diesem ständigen Schweben über dem Erdboden, immer auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich niederlassen, richtig niederlassen konnte. Endlich glaubt sie, in mir so einen Ort gefunden zu haben, auf den sie ihren Fuß setzen konnte. Umso schäbiger kam ich mir vor. Denn ich fühlte mich so sehr als Betrüger. Obwohl, dachte ich, obwohl meine Liebe zu ihr echt war. Oder? Nein nein, das war echt, ich hatte es ja nicht geplant, es hatte mich überrascht, und es war ein ganz neues Gefühl gewesen, erstmals in meinem Leben hatte ich so gefühlt. 
Und doch spürte ich, daß es da noch mehr brauchte als dieses Gefühl, so stark es auch war, und so sehr es mich bewegte. Ja, es bewegte mich! Es machte mich sogar zu einem besseren Menschen, dessen war ich ganz sicher. Der Beweis war, daß ich bei ihr nicht mehr an mich dachte, sondern ohne Probleme nur an ihr Wohl denken konnte. Das ergab sogar eine fast amüsante Umkehrung der Natur, denn eigentlich war das ihr Programm. Aber tatsächlich war ich ihr auf eine Weise gehorsam. Ich wollte, daß ihr Wille geschah. Was war das sonst als Gehorsam? Freiwillig, aber doch. Und ein reiner Effekt der Liebe zu ihr. 
Wieder. Wieder war da ein Gebet, das aufstieg. Dank. Es war Dank gen Gott, weil ich das alles als riesiges Geschenkpaket sah, was mir mit dieser Muslima zugestoßen war. Und plötzlich konnte ich etwas, das ich mir nie zugetraut hätte, ja das ich ob der verheißenen Mühe und Anstrengung fast ein Greuel gewesen war. Aber das war zweifellos Tugend, die ich plötzlich hatte. Verpackt in dieser Liebe.
Innerlich lächelnd ging ich noch einmal die ersten Tage unseres Kennenlernens durch, während ich mit meinem Zeigefinger ganz behutsam, um sie nicht zu wecken, die Konturen ihrer Nase nachfuhr. 
Wenigstens unbewußt spürte sie das freilich. Denn sie lächelte.
Sie hatte keine Angst bei mir. Hm, das war umgekehrt nicht weniger der Fall. Auch ich konnte ihr gehorsam sein, machte mich damit angreifbar, fürchtete mich aber nicht. Das nächste Geschenk.