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Freitag, 6. Juni 2014

Erinnerung ohne Er-innerung

Wenig Überraschendes brachte ein Untersuchung an der Victoria University of Wellington http://victoria.ac.nz. Sie wollte die Zusammenhänge von Erinnerungsvermögen und dem Photographieren sehen.

Dazu teilten sie ihre Versuchspersonen in zwei Gruppen: die eine war mit einem Photoapparat ausgestattet, und sollte alles, was sie sah (bzw. ihr gezeigt wurde - Kunstartefakte, Gebäude etc.) ablichten. Die andere hatte nur ihr Gedächtnis.

Ergebnis? Die Photographierenden hatten deutlich schlechtere Erinnerung an das Gesehene, erkannten das "Gesehene" (=Photographierte) schlechter oder sogar überhaupt nicht wieder, und wußten weniger Details, als die, die nur ihr Gedächtnis hatten. 

Die Neuseeländischen Forscher meinen auch, daß dies stark mit dem Faktor des Erlebens zusammenhängt. Das läßt auf weitreichende Konsequenzen schließen, die die heutige Photographier-Manie haben könnte. Denn während Photos zwar Erinnerungen auch stützen können, so tun sie es nur im Ausmaß des mit dem Dargestellten Erlebten, das heißt: Als aktives in-Bezug-Setzen der Person mit dem Begegnenden. 

Man könnte deshalb fast von der Gefahr eines kollektiven Erinnerungsverlusts sprechen, zumal die vielen Photos einhergehen mit der Unlust wie vor allem Unmöglichkeit, sie auch entsprechend wieder zu betrachten. Damit sinken Erlebnisse überhaupt ins Nichts des Vergessens.

Ohne Erinnerung aber gibt es keinen Persönlichkeitsaufbau, weil sich kein Persönlichkeitsgrund bilden kann, der Mensch immer im Fluß des Aktuellen verloren bleibt. Es fehlt also die Basis, aus der heraus jemand dem Aktuellen begegnet.

Das erinnert an die Folgen der Veränderungen des Verschriftlichungstechnik, wie sie im Mittelalter einsetzten. War bis ins 10. Jhd. Lesen und Schreiben nur ein Ausdruck des Sprechens, und damit immer ein gegenwärtiges Geschehen, so entfernte sich die Verschriftlichung mehr und mehr davon, daß ein Schrifttext ein Ereignis selbst war, löste die Inhalte von der Form, und machte das Denken so zu einem mathematischen Prozeß, der sich nur noch im Kopf des Lesenden abspielte, nicht zu einem lebendigen Dialog mit einem realen Gegenüber. Weil Erinnerung aber wesentlich mit realen Dingen zu tun hat, das Erinnerte als Teil einer Landschaft, eingebettet in eine Architektur eines Gebäudes behalten werden kann, sodaß man an die Teile erst kommt, wenn man durch die Zimmer und Gänge wandelt, waren Einzelgedanken nie aus sich heraus verstanden.

Doch veränderte sich die Schrift selbst wesentlich durch technische Prozesse (alleine, was die Erfindung der Tinte bedeutete) zu einem Baukasten (etwa Worte und damit Begriffe zu denen des Alphabets), in dem die Ganzheitlichkeit einer Aussage - eines Wortes, das doch in Wahrheit nie vom Ganzen eines Textes, einer Aussage losgelöst werden kann - und Denken wurde zum "Ergebnis" eines technischen Prozesses, in dem eine bestimmte und veränderte rationale Logik das Zueinander bestimmte. So wird auch die Übersetzung möglicher Ersatz der Texte in der Originalsprache, wird Text nicht mehr als Gesamtdichtung begriffen. Ja, die Worte bleiben dann sogar gleich, aber das damit Ausgedrückte verschiebt sich.

Das Denken selbst veränderte sich. Mehr und mehr wurden "Gedanken" als ablösbare Werkzeuge und Bausteine erfahren, die auch in anderem Zusammenhang verwendbar - "nützlich" - waren. Die völlige Neubewertung des Denkens, wie sie sich bereits bei Descartes zeigt, war nicht zuletzt eine Folge der Erinnerungstechnik.




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