Morgen Teil 2) Deutschland zeigt es längst vor 
In die gleiche Kerbe schlägt ein dieser Tage in der Welt erschienener Bericht
 über Deutschland. Er läßt sich auf einen gleichen Nenner bringen, wobei
 es in Deutschland die Zentralmatura bundeländerweise gibt. Mit dem 
interessanten Ergebnis, daß die Leistungsschwankungen zwischen den 
Bundesländern - die ihre Ansprüche natürlich ihrem Klientel anpassen, 
so, wie es bei Zentralmatura automatisch passiert - den 
Unterrichtsinhalt von sage und schreibe zweieinhalb Schuljahren umfaßt.
Und
 dennoch steigt der Notenschnitt in ganz Deutschland seit Jahren und 
beachtlich. Durchfaller gibt es kaum noch. Die Kritik bezieht sich aber 
auf das Gymnasium generell, auf die Unterrichtsmethoden, und auf das, 
was der Autor "Beweislastumkehr" nennt. Bisher waren schlechte Noten für
 den Schüler Ausweis von Versagen und Nichtkompetenz. Heute ist es 
Erweis eines Versagens der Lehrer, denn das flexible Unterrichtssystem, 
das das "Eingehen auf die Struktur der Einzelbegabung" garantiert und 
vorgibt, führt in der Praxis zur Bereitschaft der Lehrer, eher gute 
Noten zu vergeben. 
"In den Ländern, wo das Zentralabitur eingeführt wurde, wurden die 
Aufgaben oftmals leichter", sagt der Präsident der Universität Hamburg, 
Dieter Lenzen. Offenbar führe das Zentralabitur zu 
Standardisierungseffekten, die auch Vereinfachungseffekte sein könnten: 
"Man einigt sich auf niedrigerem Niveau." [...] Lenzen hadert mit dem Können seiner Studenten. Das Abitur bereitet 
seiner Meinung nach häufig nicht mehr adäquat auf ein Studium vor. "Die 
zentrale Aufgabe des Abiturs, die allgemeine Hochschulreife zu 
garantieren, ist aus dem Auge geraten", sagt Lenzen. In der Schule werde
 sehr früh eine Spezialisierung erwartet. (cit./Die Welt)
Was das bedeutet, illustriert sich durch einen im Artikel geschhilderten Vergleich: 
[...] Aufgaben in den Fächern Mathematik und Biologie. Dabei
 legte er Schülern der 11. Klasse aus Nordrhein-Westfalen zwei Aufgaben 
aus der Analysis vor. Eine aus der Zeit vor der Einführung des 
Zentralabiturs und eine aus der Zeit danach, als die 
Kompetenzorientierung Standard wurde. "In der Zentralabituraufgabe 
erreichten bis auf zwei Schüler alle anderen zumindest ausreichende 
Leistungen, während in der Kontrolle in der gleichen Klasse von den an 
diesem Tag anwesenden 22 Schülern 21 scheiterten, davon 63 Prozent mit 
der Note 'ungenügend'."  (cit./Die Welt)
Die 
Folgen sind ausrechenbar. So, wie heute akademische Titel immer weniger 
wertgeschätzt werden, wo für Positionen, für die noch vor 40 Jahren ein 
Handelsakademiker mehr aus ausgereicht hatte, nun nach einem "Magister" 
(und am besten noch weitere) verlangt wird, ist bereits jetzt eine 
Geringschätzung der Matura (Abitur) festzustellen, die auf der 
Leichtigkeit des Erwerbs zurückzuführen ist. Ja, im Zuge 
sozialpolitischer Utopien ist für ein Hochschulstudium nicht einmal mehr
 Abitur verlangt, sondern auch Berufs-Querumsteiger können mit 
entsprechenden Berechtigungsprüfungen studieren, die von einem völlig 
anderen Bildungskonzept ausgehen: Bildung als Skill, Wissen als 
Nachschlagekompetenz bei Wikipedia. 
Hans Peter Klein, Professor für Biologiedidaktik an der Universität Frankfurt,
 gehört zu den radikalen Gegnern des neuen Abiturs. "Der neue Abiturient
 begibt sich in den von ihm zu bearbeitenden Aufgabenstellungen auf eine
 Art Ostereiersuche, in dem nahezu alle Antworten aus dem vielfältigen 
Text- und Grafikmaterial zu entnehmen sind. Lesekompetenz ist gefragt. 
Fachwissen ist Schnee von gestern. Damit belastet man sich heute nicht 
mehr, das googelt man", sagt Klein. 
[...] "Man hat die Kompetenzorientierung dazu missbraucht, das zu deren 
Entwicklung notwendige Wissen weitgehend zu entfernen, insbesondere in 
den Zentralabituraufgaben fast aller Fächer, im zugrunde liegenden 
Unterricht zunehmend auch." Nur das Wissen werde als erstrebenswert 
erachtet, das anwendbar sei und im Rahmen einer weltweiten 
"employability" Konkurrenzvorteile verschaffe. "Bildung und Wissen als 
Wert an sich spielt in diesem Konzept keine Rolle mehr." (cit./Die Welt)
Daß
 man heute mit dem unfaßbaren Umstand konfrontiert ist, daß ein bereits 
erheblicher Anteil der Maturanten an "burn out" leidet, ist da nur ein 
weiteres Schlaglicht. Die Konzentration auf die Noten ist - ganz anders 
als behauptet - so ausgeprägt wie noch nie. 
Denn 
genau das Gegenteil von dem, was man mit der Abschaffung differenzierter
 Schulstufensysteme vorgeblich im Sinn hatte, tritt und trat nachweisbar
 ein: Die Berufswahl muß immer früher stattfinden, weil sonst eine 
"individuelle Förderung", die also bereits frühzeitiger denn je 
spezialisiert (im alten System mußte jeder Maturant noch eine bestimmte 
Allgemeinbildung erwerben), überhaupt sinnlos wird.
Noch ein abschließendes Zitat aus dem Artikel: 
"Als es noch kein Zentralabitur
 gab, haben wir mit den Schülern aus Lust richtig schwere Sachen 
gemacht", [...] "An diese Grenzen führen wir sie heute kaum 
noch. Wir üben lieber die Aufgaben, die ihnen im Abitur auch nutzen, und
 das immer wieder. Alles ist leider schematischer geworden." Mit jedem 
Zentral-Abi-Jahrgang wächst der Pool an Beispielaufgaben, die die 
Schüler pauken können. Verlage geben sie als Bücher heraus. (cit./Die Welt)
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