Dieses Blog durchsuchen

Mittwoch, 29. August 2012

Erinnerungslosigkeit ist Auslöschung

Ja, aber - sagt mir da K - ist nicht die digitale Speicherung viel lückenloser? Versichert sie uns nicht, daß nichts vergessen wird? Sichert sie nicht jeder Generation zu, sich aus der Vergangenheit, von ihr, eine neue, eigene Sicht bilden zu können, weil die Datenspeicherung objektiv ist, nicht subjektiv?

Nichts davon ist richtig. Es gibt keine objektive Datenerfassung, und schon gar nicht läßt sich in der Gegenwart sagen, was einmal als wichtig oder wesentlich angesehen werden wird. Mit Gewißheit läßt sich sagen, daß es uns in der Zukunft nicht anders gehen wird, wie mit der Vergangenheit: unsere Sichtweisen werden so verschieden sein, wie es nur sein kann. Nur werden den Datensammlungen die entscheidenden Ordnungen fehlen, sie werden nutzlos sein.

Denn Erinnerung ist immer ein subjektiver Hervorholungsprozeß, an der Hand von Sichtweisen und Lebensweisheit, ein Dialog mit dem Geschehenen, der eigentlich nie abreißt: was aktuell passiert, wird damit konfrontiert, und hält stand, oder wird verändert, oder verworfen. Sichtweisen sind damit Verarbeitungsprozessen unterworfen, und eine davon ist auch das Vergessen: Unwichtiges wird vergessen! Mit Recht. Es belastet nur. Deshalb wächst auch eine Sichtweise mit der Persönlichkeit, das heißt mit dem Maß einer gerechten, in der Selbsttranszendenz gewachsenen Selbststärke, in der Gestalt einer Identität. Erinnerung ist ein lebendiger Prozeß! Und ihre Wahrheit wird mir durch den Übergebenden garantiert, durch den, den ich kenne, und den ich einzuschätzen weiß. Mit jeder Weitergabe ist nämlich auch Stellungnahme eingeschlossen.

Persönliche Weitergabe führt so zur kollektiven Erinnerung, schafft jene Bereiche der Identität, die dem Menschen angemessen sind - jeder Mensch ist immer auch einer Gruppe zugehörig, einem Land, einer Schichte, etcetera. Das sind alles Merkmale der Identität, ja das ist Identität selbst. Sie schließt auch die kollektive Stellung zu Ereignissen mit ein, und läßt erst damit die Freiheit, sich dazu zu stellen. Die Demenz, das Alzheimer-Syndrom zeigen es überdeutlich: Erinnerungslosigkeit, Mangel an geschichtlicher Kontinuität, löscht die Persönlichkeit aus.

Erst auf der Basis dieser persönlichen Gewichtung können Hilfsmittel beigezogen werden, wie "Heilige Schriften", die sich auf eine Fülle beziehen, die in der persönlichen Weitergabe untergehen kann, die die Erinnerung auch vor der Willkür mancher Zeit bewahren. Die gleichzeitig aber auch weitergeschrieben werden (können). Deren Inhalte aber leben nur durch die Fähigkeit, sie auf die lebendige Erinnerung und Tradition zu beziehen. Sonst werden auch Schriften stumm, unverständlich. Und tatsächlich ist das nicht selten der Fall. Weil mit dem Ende einer lebendigen Kultur auch die Präsenz des Erinnerten verging, TROTZ zahlreicher Aufzeichnungen, die uns aber nichts mehr sagen. Noch dazu, wo gerade das uns Selbstverständliche nicht nur das Grundlegende ist - sondern auch das, was uns am wenigsten bewußt ist, oder uns zu gewöhnlich erscheint, es aufzuzeichnen.

Aber auch das Hervorholen von Erinnerungen ist in einen nicht abzugrenzenden personalen Akt, eine Situation eingebunden.

Alle "Daten" zu speichern heißt nicht, mehr oder mehr relevante Informationen einmal zur Verfügung zu haben! Zu diesem Urteil braucht es immer den Blick nach rückwärts, den gibt es nur aus der Geschichte heraus. Es heißt vielmehr aber, GAR KEINE Informationen mehr zu besitzen, weil die lebendige Erinnerung starb. Heißt lediglich abgezirkelte, den technischen Gesetzen des Mediums gemäß aufbewahrte, blinde, zufällige Daten zu sammeln, die zu deuten gar niemand mehr in der Lage sein wird bzw. schon gar nicht "objektiv". Heißt daß wir uns den Eingrenzungen simpler ja/nein-Technik, uns einem uns fremden Deutungsstandard (F. Kittler meint sogar: dem der Programmtechniker!) unterwerfen, der die Gewichtungsvorgänge ein für allemal festlegt.

Wirkliche Erinnerung, Gedächtnis, ist eine Frage der Identität. Sie gibt die Marksteine vor, nach denen zu Bewahrendes aufbewahrt wird, nach denen Unwesentliches der Vergessenheit überantwortet wird. Wer sich nicht erinnert, in dem Geschichte nicht präsent ist, ist ein nie Gewordener. Wer sich aber erinnert, persönlich erinnert, in aller Komplexität dieses Vorgangs, kennt, was ihn geformt hat. Und das in aller Ambivalenz und oft unaussprechlichen Vielschichtigkeit! Aber auch in der Auswahl durch den lebendigen Bezug, der ins Vergessen sinken läßt, was sich über die Zeit als irrelevant herausstellt.

Wer will aber den wirklichen Inhalt des simpelsten Märchens "digitalisieren"? Lesen wir in dreißig Jahren "Hänsel und Gretel" als Information über "Brotkrümel"? Gibt es überhaupt einen Text ohne Bezug zum Lebendigen, auf dessen Unerschöpflichkeit er nur hinweisen kann? (Was die Problematik noch schärfer zeigt, denn: welches Kind kennt heute noch überhaupt einen Wald? Von Bildern aus dem Internet? Was ein Wald ist, muß erlebt sein.)

Ganz gewiß haben auch Sie, geschätzter Leser, schon erlebt, wie Texte nach zwanzig, dreißig Jahren wieder gelesen, völlig andere Aussage entbergen. Man hätte sich völlig verschätzt, hätte man sie damals kategorisiert! Und ihr Gehalt lag nicht am nominellen "Inhalt", der wies nur auf ein Dahinter, das das Leben allmählich uns zugetragen hat.

Kindern, Jugendlichen, überhaupt: anderen etwas zu erzählen, das Gedächtnis aufrechtzuhalten, das kollektive Gedächtnis lebendig zu gestalten, ist eine zentrale, ja DIE zentrale Überlebensfrage einer Kultur. In der Erinnerung werden die Prinzipien der Welt in die Gegenwart geholt, selbst wenn man sie momentan nicht versteht. Denn das Erzählte ist auch ein Auftrag: seine Inhalte zu erfahren, real, im Leben. Im Vertrauen, daß die Erzählung nicht ohne tiefmenschlichen Grund überlebt hat, weitergegeben wurde. Dann aber sollten wir die Alten, die Weisen fragen können. Sie können uns uns selbst geben.

Aber es gibt kein System der Etiketten, an denen Erinnerungen herauszuziehen wären, ohne lebendige Erinnerung. Wer sich aber nicht mehr erinnert, löscht sich aus.


Noch ein kleiner Nachschlag: die NZZ berichtet, daß Demenz bereits die dritthäufigste Todesursache in der Schweiz ist.



*290812*