Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 24. August 2012

Wirklichkeit und Zahlen

Diese Graphik der UBS überraschte vermutlich niemanden, ärgerte aber umso mehr. Wie Industrielle mit internationalen Ambitionen, und vor allem: Politiker. Sie zeigt die Entwicklung der verfügbaren Haushaltseinkommen in der Euro-Zone in den Jahren 2000 - 2010. Österreich hat demnach am deutlichsten VERLOREN, und zwar quer durch alle Einkommensschichten, am deutlichsten aber in den unteren Einkommenslagen - mit beachtlichen minus 35 % Kaufkraftverlust!

Denn UBS hat etwas sehr Vernünftiges gemacht: Das Institut hat richtigerweise angenommen, daß jeweilige Bevölkerungsteile jeweils ANDERE Produkte brauchen, und deshalb von Inflation jeweils anders betroffen sind. Denn durch die Veränderung der Produktverbrauchsstrukturen ändern sich ja auch die Produkte für den sogenannten "Warenkorb".

Wer gerade mal über die Runden kommt profitiert herzlich wenig vom Verfall der Preise für Fernreisen und Hochleistungs-Elekronik, die Gutverdiener aber umso stärker in ihren Alltag eingebaut haben. Die damit aber deutlich auf die Produktzusammensetzung des "Warenkorbs" Einfluß nehmen, wo die tägliche Milch (trotz weit höherer Preissteigerung) hingegen kaum ins Gewicht fällt. Diese solcherart nach tatsächlichen Einkäufen gewichtete Einkommen wurde mit der entsprechenden sektionellen Inflationsrate abgeglichen.

Seit kurzer Zeit gibt es ja in Österreich sogar tatsächlich auch eine dieser Tatsache besser angeglichene "zweite Inflationsrate". Sie bezieht sich auf den üblichen Wocheneinkauf, und schon hier zeigt sich regelmäßig die auch durch andere Tatsachen höchst fragwürdige Aussagekraft der "offiziellen Inflationsrate". Denn aus der Preisentwicklung der Produkte des täglichen Grundbedarfs ersieht man, warum der Bürger von der Straße seit der Euro-Einführung über exorbitante Preissteigerungen - was als "nur gefühlte Inflation" verleumdet wird - klagt, während ihm berufene und gewiß gut bezahlte und noch gewisser hochgebildete Münder erklären, daß er sich irre - die Inflationsrate sei ja viel niedriger!

"Während der vergangenen zehn Jahre hat die Inflationsungleichheit zugenommen. Güter und Dienstleistungen, die von ärmeren Haushalten angeschafft werden, haben sich tendenziell stärker verteuert als die Güter und Dienstleistungen, die von einkommensstarken Haushalten nachgefragt werden."

Tja, sieht verdammt danach aus, daß auch die Prosperität der letzten Jahre sich auf Produkte bezog, die nur noch für die oberen Einkommen von Wert sind, während der Grundaufwand, um überhaupt existieren zu können - durch Notwendigkeit von Indidivudalverkehr, Kommunikationsmitteln, etc. etc. - stieg, was die unteren Einkommensschichten geauso heftig betrifft, wie die Verteuerung der Lebensmittel, die derzeit ins Haus steht, und die zumindest zum Teil der Behebung virtueller Probleme wie Verringerung von "Klimaschädigung" durch Verheizen von hochwertigen eßbaren Pflanzen zuzuschreiben ist.

Wenn man dem noch hinzufügt, daß das Wirtschaftswachstum seit langem auf Schulden basiert - die "reicheren" Länder haben den ärmeren Geld geborgt, damit diese deren Produkte kaufen können, mit Kaufkraft aus durch "mehr Geld im Land" gestiegenen Einkommen, womit Politiker auf internationalen Konferenzen beweisen könne, welche gute, solidarische Menschen sie (mit dem Geld der Bürger) sind - könnten bemerkenswerte weitere Rückschlüsse zulässig sein.

Selbst wenn man berücksichtigt, daß UBS möglicherweise überzogen bewertet hat - von Reallohnverlusten ist schon jahrelang die Rede, nur hat es noch niemand an die große Glocke gehängt. Jetzt hat es umso mehr Brisanz, weil durch das immer stärkere Aufkommen politischer Strömungen, die Ausstieg aus dem Euro, zumindest Umbrüche im Eurosystem verlangen, die Medien gerade ansetzten, um die Bevölkerungen (ihren Eigentümern und Geldgebern zuliebe, man gönnt sich ja sonst nichts) vorzurechnen, wie jeder vom Euro profitiert habe.  Und dieselben Zeitungen, die vorgestern noch Jubelberichte brachten (ich nenne sie mal nicht beim Namen), bringen nun (wenn auch mit gewisser Verzögerung) DIESE Zahlen. Da lobe mir einer doch die Kompetenz so mancher Redaktionen ...

Um heute natürlich wieder Gegenberichte zu bringen: alles überzogen, alles nicht wahr, ja das Gegenteil sei wahr. Wobei aus der Stellungnahme der Österr. Nationalbank ein interessantes Detail auffällt: sie widerspricht nicht einfach nur der UBS, sondern versucht den Glauben an die Parameter widerherzustellen. Durch Fortführung der alten Argumentation: Der "Verbraucherpreisindex" beweise es, er habe sich nachweislich sehr moderat entwickelt. Ja mehr noch: Das Sinken der Kaufkraft (sic!) im Inland habe im übrigen Österreich im globalen Wettbewerb gestärkt! Na wer da nicht in Jubel ausbricht, und frisch gestärkt wieder zur Tagesordnung der Aufbringung der 60 %igen Abgabenquote in Österreich übergeht?

Sei's drum. In Reaktionen auf den provokanten UBS-Bericht wird nun wenigstens hier und dort über den Realitätsbezug solcher Zahlen mehr nachgedacht. Denn anders als die Politik den Menschen einreden will, sind Inflationszahlen wie "Verbraucherpreisindices" höchst fragile Wesen, mit außerordentlich geringer direkter Aussagekraft! Warum? Eben, weil sie mithilfe der Warenkorbzusammensetzung so gut wie keine Aussage über die Wirklichkeit beinhalten, sondern die vorgestellte, durchschnittliche Wirklichkeit der Ökonomen widerspiegeln, die eine rein rechnerische Größe, in der Praxis oft völlig anders zu rezipieren wäre.

Ein kleines Beispiel gefällig? Wenn man einen heutigen Herrenanzug mit einem solchen vor dreißig Jahren vergleicht, vergleicht man Äpfel mit Birnen. Noch in der Kindheit des Autors dieser Zeilen war ein solches Kleidungsensemble von einer Qualität, die für zehn oder zwanzig Jahre veranschlagt wurde. Heute wird auch "ein Anzug, schwarz", berücksichtigt. Aber vergleichen Sie mal das Produkt! Oder: Ja, bei Sonderangeboten in den unterschiedlichsten Märkten kann ein Kilo Schweinskarree tatsächlich sehr günstig erstanden werden. Aber dafür muß der Käufer 20 Kilometer Autofahrt und so manche Stunde Zeit investieren, die nicht nur niemand rechnet, nein! Die nun sogar - im Warenkorb - die Produktzusammensetzung und den Lebensstandard ändert, und das BIP kräftig steigen läßt! Denn nun gibt es: Billiges Fleisch, ein Auto, und ein Handy zusätzlich, weil die Abholung der Kinder auch noch umorganisiert werden muß. Und schon ... ergibt sich ein völlig anderes Bild. 

Das wirkliche Bild aber wäre: Das Fleisch ist in den Gestehungskosten so unverhältnismäßig teuer geworden, daß es jeder Beschreibung spottet. (Aber nicht, weil der Bauer mehr bekommt!) Und ... die Ärmsten, die, die diese Flexibilität nicht haben, die spüren das auch. Beispiele über solche komplexen Verflechtungen, aber genauso über die Möglichkeiten diese "Inflationsrate" zu manipulieren, gäbe es praktisch ohne Zahl. Die offiziellen Inflationsraten sind also bestenfalls Parameter für jene, die die Voraussetzungen bestens kennen, und nur diese beschreiben die "Inflationsraten". Und besser geht so etwas auch einfach nicht. Weite Teile der Wirtschaftsmathematik spazieren am Rande der Sinnlosigkeit.

Von Problemen einer Durchschnittsrechnung, auf die Realität angewandt, an sich soll hier gar nicht erst die Rede sein! Gerade Bezieher kleiner Einkommen haben ja z. B. das Problem, daß ihre Kaufkraft oft gar nicht dem geringeren Preis, sondern der momentan verfügbaren Liquidität zu gehorchen hat. Was, wenn das 5-Kilo-Pack Schweinefleisch etc. gar nicht ... finanzierbar ist? Oder gar nicht eingefroren, also nicht angeschafft werden kann? Dann HÄTTE man billig einkaufen können, gewiß, aber im 37-Prozent-Anteil einer pro Haushalt gerechneten Gefriertruhe kann man das nur selten einfrieren, selbst wenn diese im Preis gefallen ist und eines statistischen Wohlstand vermehrt.

Für den Normalbürger, als Aussage über das wirkliche Leben, sind solche Zahlen ohnehin leere Schlagwörter ohne jede Relevanz. Und mit einem realistischen Denkansatz ließen sich sämtliche Zahlen auseinandernehmen, die aus berufenen Mündern entfleuchend dem Bürger täglich um die Ohren fliegen.

Die meisten Kommentare der Medien sprechen bei Österreich aber immer noch von etwa 10 % Reallohnverlust in den unteren Einkommensschichten. Die Industriellenvereinigung natürlich meint, es sei überhaupt alles nicht wahr. (Ja, genau, die die nun billige Anzüge in China produzieren lassen, die uns nun vieeel billigere "Anzüge, schwarz" in den Warenkorb legen.) Die Kaufkraft habe sich sogar erhöht. Und wenn, dann seien Kaufkraftverluste auf die "ausweglose" Globalisierung zurückzuführen, nicht auf den Euro.

UBS jedenfalls noch im Fazit:

"Für die meisten, wenn nicht alle Euro-Länder war die Entscheidung, an einer dysfunktionalen Währungsunion teilzunehmen eine in wirtschaftlicher Hinsicht schlechte", schreibt Donovan. "Der Umstand, dass in einigen teilnehmenden Volkswirtschaften der Lebensstandard gefallen ist, wird dort wahrscheinlich Ressentiments und Bitterkeit gegen jene Volkswirtschaften schüren, deren Lebensstandard gestiegen ist."




Entwicklung der verfügbaren Haushaltseinkommen 2000-2010 in der Euro-Zone, nach Ländern und jeweiligen Einkommensklassen (Quelle: UBS)




***