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Donnerstag, 8. Oktober 2009

Und er ging direkt in die Seligkeit ein!


Das Beeindruckende, Läuternde der Schriften der Hl. Theresia von Avila, oder: vom Kreuz, wie sie sich nannte, ist gar nicht so sehr der theologische oder philosophische Inhalt, weit gefehlt.

Auch ein Interesse literarischer Art beschränkt sich auf die natürlich immer wieder vorzufindenden Einsprengsel von Erzähltem, aus dem man (auch) ein Zeitbild erhält. Aber das wird einem bald unwichtig.

Die Reinheit einer Seele ist es, die einen gefangen nimmt. Man ist von ihrer jugendlich wirkenden "Stimme" so berührt, ja man hört sie mit der Zeit fast mit Ohren, erlebt lustvoll nahezu ihre stille, heitere, ja humorvoll-nüchterne Art, ihre Güte, versteht dabei - selbst gütig lächelnd - ihre uns oft so überzogen erscheinende Selbstkritik, die aber so fern ist von jener Koketterie, wo man den Hintergrund scheinbarer Demut nur aufzieht, um die Stimmen der Eitelkeit noch deutlicher zu hören. Man genießt mehr und mehr nur noch das Licht, von dem man einen Schimmer abbekommen möchte, weil es in ihr so anziehend vor einem steht, daß man versteht, was Edith Stein seinerzeit ausrief, als sie, Jüdin, bei der Lektüre begriff, daß sie zum Katholizismus zu konvertieren habe: "Ja, das ist die Wahrheit!" Soll heißen: Ja, da erfaßt man Gott, in diesen Schatten, die in seinen Heiligen vor einem stehen.

Nicht viel anders ergeht es einem auch selber, wenn man die etwa 1780 entstandenen Lebenserinnerungen Ulrich Bräker's aus dem Kanton St. Gallen liest: "Das Leben und die Abentheuer des armen Mannes im Tockenburg".

Es wäre gleichgültig, ob Bräker von Flinten von 1756, wo er "versehentlich" zum Preußischen Heere requiriert worden war, oder von Maschinengewehren des 20. Jahrhunderts berichtet. Es ist egal. Es wäre auch gleich, ob er als Bub Ziegen gehütet hätte, wie er es tat, oder zweihundert Jahre später was weiß ich was getan hätte. Es wäre egal! Worüber Bräker berichtet, was in seinem Buch sichtbar wird, ist zeitlos. Der Mensch, wie er ist, und er hat sich nicht einen Deut verändert. Dieselben Charakterzüge, dieselben Intrigen, dieselben Herzensqualitäten, dieselben Bosheiten und Niedertrachten, dieselbe Gier, dieselbe Güte, die jeder Leser ganz gewiß selbst erlebt hat, oder sich zumindest vorstellen kann.

Wikipedia schreibt und man quittiert es kopfschüttelnd, daß seine Bedeutung darin läge, daß mit ihm ein Mann des Volkes aus jener Zeit zu Wort käme, und so wertvolles Zeugnis vom Leben der einfachen Leute ablegte. Pah! Um all das geht es doch nie! Und im übrigen - so wenige Lebenszeugnisse aus dieser Zeit gibt es gar nicht, da weiß man recht gut, wie die gelebt haben. Aber das interessiert doch bestenfalls verquerte Ideologenflachköpfe, die Bräker vielleicht gar noch zum "Klassensymbol" machen, dann noch vielleicht Historiker und Historiologen, weil solche Sachen kann man wissen und erfahren wollen, gut.

Aber das ist verglichen mit dem wirklichen Wert des Buches, mit der Wirklichkeit dieser Autobiographie des "Armen Mannes aus dem Tockenburg" lächerliches Beiwerk, dient bestenfalls einer aber vollständigen Relativierung dessen, worauf wir heute "stolz" sind, von dem wir glauben, es hätte uns "weiter" gebracht. In Wahrheit kann man, gerade auch nach solcher Lektüre, nachgerade NICHTS finden, wo wir Heutigen "weiter" wären - ganz, ganz zum Gegenteil!

Dabei findet sich alles, vom Humor, vom Berührenden der Schilderungen des so einfachen Lebens, man leidet mit, wenn er die seelischen wie äußeren Kämpfe des Vaters mit den quälenden Schulden (ihm selber geht es dann nicht viel anders) beschreibt, man ist zutiefst vom zarten Finger der Poesie berührt, wenn er sein Geißen hüten beschreibt, und selbst Erotik, in der besten Art, findet sich. Weil eben alles zum Leben gehört, das Gute, das Schöne, im Kampf gegen das Häßliche, der Tod, die Geburt, Krankheit und Leid, Elend und Wohlstand - und alles nimmt der Mensch aus der Hand Gottes an, oder er flieht es, schafft so gut er kann, im Vertrauen auf den Segen, oder wehrt sich sinnlos, und scheidet im Unfrieden.

Und in welcher schlichten Sprache er schreibt - nie würde man diese Sprache als "primitiv" denunziert wissen wollen, nie ist sie banal oder platt, so einfach der Satzbau auch ist! Es ist eine wesentliche Sprache, als wäre jeder Satz aus einer zutiefst eigenen Quelle erflossen, und hundertmal geläutert und gereinigt und im Feuer geschmiedet. Kein Dialekt, keine stilisierte oder gar manieristische Hochsprache, und selbst heute wirkt sie keinen Moment "aus dem Barock", schon gar nicht euphuistisch (wie Nadler die barocke, nahezu sinnlose Überüppigkeit nennt) - sie wirkt auch heute genau so, weil sie einfach ECHT ist. Nie gestohlen, sondern durchdrungen von eigenem Lebenssaft, ergriffen, in Besitz genommen.

Ein einfacher Bauerssohn aus dem Schweizerischen Tockenburgischen Tal, aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, der sich ohne jede höhere, ja ohne jedwede Bildung, sieht man von simplen Grundtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) ab, hat Bräker sich das Wesentliche des Dichters völlig allein erarbeitet. Und nie hätte er für andere geschrieben, so rührend und psychologisch klug er von seinen gelegentlichen Anwandlungen zum "Prediger" berichtet, mit denen er seine unzufriedenstellende eheliche Situation garnierte. Aus eigenem Erleben stammt das, was er über das Schreiben, die Dichtung, die Poesie, das Leben sagt, und es steht in einer Reihe mit dem, was ein so stupend gebildeter Hofmannsthal, ein ja kaum zu überbietender Borchardt, ein tief echter Doderer, oder ein künstlerisches Genie wie George sagt.

Nicht einmal Romantiker ist er, für den "Kunst" oder gar "Kunstgeschwätz" zur Lebensflucht dahingehend wird, als es dem schlichten, harten, aber auch so erfüllten Leben der damaligen Zeit, angesteckt wird wie ein Hochzeitssträußchen - so zu tun, wie man tut, wenn man zu tun meint, das hat Ulrich Bräker nicht notwendig, ja das widert ihn an. So wie es Jung Stilling anwiderte, der auch etwa zu der Zeit seine Lebenserinnerungen schrieb, aber wie anders, nur gleich in dieser Suche der Echtheit, mit der er dann später Goethe, ja den ganzen Sturm und Drang, die Frühromantik, genau davon heilte. Und den Bräker kannte, der freilich eines so gerne tat: Lesen, und dann und wann selber sich was fortschreiben, freilich voller Gewissensbisse, weil er halt gar so untauglich fürs Leben war, und alles falsch machte, weil halt alles mißlang.

Aber das alles ist keineswegs jene Schulung gewesen, wie sie eben ein Stilling oder Goethe hatte, der dann später, so wie so viele, vor dem einfachen Schweizer regelrecht kniete. Bräker hat nur über eines sich entwickelt: über seine Sehnsucht nach einer reinen Seele. Und er zeigt damit, woraus wirkliche Poesie entsteht, nein, geboren wird: dazu muß man rein sein, um sie ganz der Welt ablauschen zu können. Sie ist damit wie jede Kunst eine Frage der Herzensbildung. Sie ist eine Frage der Freiheit, und der Liebe. Dies waren auch seine Ziele, und die hat er mit größter Wahrhaftigkeit verfolgt. Mit einem unbändigen Willen zur Wahrheit, der Energie zu einer "gnadenlosen" und realistischen Beleuchtung (Theresia nennt einmal das Leben im Lichte Gottes gnadenlos, und sie meint es genauso wie Bräker!) seiner Seelenregungen und Gedanken, mit einem schwer errungenen, aber im Alter dann so sicher gewordenen Gespür für innere Prozesse, wenn alles abgelegt ist, wo man sich doch ständig zu täuschen versucht! Es war die Zeit nie für ein großes Lebenswerk, vom Umfang her. Aber von der Güte - da hat er es erreicht.

Voller Demut war er, voller Bereitschaft, alles anzunehmen, was aus Gottes Hand kommen mag, allem Ringen darum, weil er weiß, weil er dieses vielleicht überhaupt erst Religion begründende, ausmachende Ahnen hat, daß ein Gott nur dann sei, wenn er über alles nicht nur herrsche, sondern daß Glückseligkeit direkt damit zu tun hat, daß man den Gesetzen des Natürlichen, 'Geschaffenen' (als Ausdruck Gottes Willens) schlicht zu gehorchen hat.

Es klingt wie so vieles was Theresia schreibt, und auch sie nimmt ja nur auf, was alte Überlieferung ist, eigentlich: Menschheitsgedanke.

Und wirklich - am Ende dieses Weges der Läuterung, der Selbstabtötung, wie Theresia es nennt, der Bräker zu einer Seelenreinheit bringt, von der die Schrift nicht nur berichtet, sondern aus der heraus sie immer wieder erschüttert, liegt etwas, das dem, was einen anweht, wenn man vor allem die Briefe der Hl. Theresia liest, völlig deckungsgleich ist.

Dabei war Bräker Protestant! Aber das war ja damals noch weit weniger trennbar vom Katholischen, nämlich wirklich getrennt, wie es heute ist - eine Frucht (Toynbee meint sogar: des Verfalls!) des späten 19. Jahrhunderts vor allem und nicht ohne Mitschuld der Katholischen Kirche. Leibniz baute ja nur wenige Jahrzehnte vor Bräkers Geburt 1735 seine ehrlichen leidenschaftlichen Bemühungen um Reunion genau darauf auf. (Auch er ein Protestant, den der katholische Papst sogar zum Kardinal machte!)

Theresia von Avila, die rund zweihundert Jahre vor Bräker, der 1798 starb, gelebt hat, hat den einen oder anderen Hinscheid eines Freundes, Verwandten oder Kollegen in ihren Schriften manchmal so kommentiert, und sie tat es nie zum leeren Trost: "Ich bin mir sicher, daß er ohne Fegefeuer gleich in die Anschauung Gottes gekommen ist," wenn sie es nicht visionär auch sah. Dieser Satz aber drängt sich auf, liest man dann vor allem die letzten, resümierenden Seiten aus Ulrich Bräkers Lebensbeschreibung, die so voller Weisheit und Licht sind. Sich zu einer Reinheit und Helligkeit erheben, die den Leser zu einem besseren Menschen macht, und ihn Tränen über die Dunkelheit, die ihn so oft umgibt, vergießen läßt.

Ja, es kann nicht anders sein: Er ging direkt ein, in die Seligkeit, in die Quelle aller Poesie und Schönheit, in das Reich Gottes. Er war schon zu Lebzeiten durchsichtig geworden wie die Luft des Hochgebirges, für das Dahinter.




*081009*