Von frühester Kindheit an, war in mir eine unbändige Leidenschaft, das in mir Zerbrochene durch Rekonstruktion wiederherzustellen. Dort lag das Glück. Vielleicht war es Zufall, im Sinne einer von mir irrtümlichen Herstellung von Zusammenhängen, vielleicht aber auch nicht - daß die erste Erinnerung an dieses Daseinsgefühl mit dem Weggang, nein, dem Verlust des Vaters in eins fiel. Sodaß die Mutter, die die Kinder noch dazu existentiell an sich band, unbedingt, ja in Hörigkeit, bewußt sich schützend unter Schweigen, mit der Zerstörung identifiziert werden mußte. Man war also an die Kräfte der Zerstörung angewiesen ...
Selbst der rein physiologische Vererbungsprozeß selbst ist dafür Metapher, zeigt diese Tatsache: wenn sich die Doppelhelix der DNS spaltet, zweiteilt, gibt es immer Informationsverlust durch unvollkommene Teilung. Und daraus entstehen, im Prinzip, alle Krankheiten und Defekte.
Ich weiß mich mit diesem Lebensgefühl also nicht alleine, es ist das logische Lebensgefühl einer Kultur im Niedergang. Denn genau daran geht ja alles zugrunde, was sich erst aufbaut: weil es im Weitergeben der Kraft defizitär wird. Entsprechend werden in Zeiten des Niedergangs die Vorfahren verdammt, während im Aufbau die Tradition geehrt wird. (Auch hier also: völlig konträr zur Vorstellung des Fortschritts, wie ihn der Marxismus, die Aufklärung propagiert.)
Aber selbst, wenn ich Rudolf Borchardt lese, der genau dies einmal historisch identifiziert und sich zur lebendigen Allegorie weiß, wenn er schreibt: »... weil die Geschichte meines Lebens die Geschichte des Zusammenbruches der deutschen Überlieferung gewesen ist und des Versuchs eines Einzelnen, diese aus den Trümmern zu ergreifen und in sich herzustellen.« So liegt in dieser Verortung, in dieser Synchronizität der äußeren Vorgänge mit innerem Erleben, als auch von Früheren erlebt zwar Trost, aber gleichzeitig weiß ich, daß ich dieses Problem ganz neu und eigen lösen muß. Denn es stellt sich uns Nachgeborenen auf eine ganz andere Weise, als ihm. Die Rückschau auf Borchardt, als Beispiel, kann also nicht Sehnsucht nach dem Früheren sein, sondern Ehrfurcht davor, wie diese jene dieselben Erfahrungen und Lehren gelöst haben. Um im Heute mich zu besitzen, und damit zu leben, mein Leben zu besitzen, ohne von dumpfem Anklang getrieben zu sein.
Jede Generation hat das Maß des Schönen, das Richtmaß des Wahren und Guten, jeweils in unterschiedlichem Maß zurück liegen. Aber das ist das Wesen der Kindheit und Jugend, und es ist Bedingung unseres Daseins. Genauso falsch wie zu fordern, daß dieser Informationsverlust, dieser Traditionsbruch, endlich aufhöre, weil es hieße, die Erbschuld wegleugnen zu wollen, und das hieße Jesus Christus, Gott selbst, in seinem Heilswerk zum Dummkopf zu erklären, genauso falsch wäre es, zu resignieren.
Jede Generation hat ihr Ziel auch in etwa gleich großem Abstand zu sich - in dieser relativen Vergangenheit, ihm vorausgehend, und in der Kindheit, denn Leben heißt: jenes Kind erinnern, das alles in sich trug, was wir sein können und damit sollen. Ohne daß absoluter Gehalt sich gleichfalls relativiere. Aber unser Ziel hienieden ist eben nicht ein gewisser Kultur- und Zivilisationsstand, sondern ist qualitativer Natur, historisch bedingt aber die Gestalt.
Oder, wie Theresia von Avila es oft und oft schreibt: man könne sich freuen, wenn die Schwierigkeiten groß seien, weil dann die Möglichkeit zum Verdienst es gleichfalls sei. Und damit der mögliche Lohn in der Ewigkeit.
*151009*