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Sonntag, 7. November 2010

Paradoxon

K erzählte einen paradoxen Fall aus seiner Praxis:

20 Jahre hatte G ihrem Mann vorgeworfen, ihn nicht zu lieben, ihm das Leben mit den täglichen Forderungen zur Hölle gemacht deswegen, weil sie sich zu wenig geliebt sehe, während sie ihn doch so liebe. Und sie hatte das auch der Umgebung erzählt, die ihn entsprechend behandelt hatte: als lieblosen Menschen. 

Während er still litt, weil ihre Handlungen ständige Akte der Lieblosigkeit waren, die diese unerfüllte Forderung zum Motiv nahmen.

Dennoch war der stutzig geworden: und was, wenn das stimmte? Und in seinem Jammer, sie zuwenig zu lieben, denn die Welt sagte doch immer einen Funken Wahrheit aus, es kam nur darauf an, in freizulegen, war auf die Vermutung gestoßen, daß er sie aller Wahrscheinlichkeit tatsächlich nie hatte lieben wollen, und weil er das immer sicherer sagen konnte, initiierte er ein Ehe-Annullierungsverfahren: da sei doch, meinte er, zu prüfen, ob er sie damals hatte heiraten wollen? Er hatte sie ja nie geliebt, wie die Frau bestätigen könne! Also verließ er sie, weil diese persönliche Problematik jede sachliche längst überlagert, das alltägliche "familiäre" Leben zerstört hatte.

Die Scheidung erfolgte zwischenzeitlich. Und sie erzählte weiterhin der Welt, daß sie ihn ja so liebe, man möge aber Nachsicht mit ihm haben, der er sie verlassen habe.

Das Verfahren begann. Und siehe da: mit einem male gab sie zu Protokoll, daß sie völlig sicher sei, daß er sie liebe. Und sie führte es als Beweis an, daß die Ehe deswegen gültig sei: er habe sie ja, beweisbar, ständig geliebt! 

Während er, in einem Akt der Selbstanklage, beweisend die Jahre erzählte, in denen er sie nie geliebt hatte. Eines Tages klopfte es. Sie stand vor der Türe, und als er sie hereinbat, erzählte sie ihm in sachlichem Tone, daß sie (und die Kinder) überein gekommen seien, daß sie froh wären, ihn nicht mehr im Hause zu haben. Es sei ja wohl besser so, wie es gekommen war. Er sei zu lieblos.

Als es zur ersten Urteilsfindung im kirchlichen Verfahren kommen sollte, und die Beweislage in der Akteneinsicht ein überraschend eindeutiges Votum für die Richtigkeit der Vermutung - die ehe war nie gültig geschlossen - ergab, langte wenige Tage danach beim Richter ein Brief ein. Darin legte sie diesem noch einmal dringend dar, daß er sie in Wahrheit liebe, beweisend habe sie noch Schriftstücke beigefügt.

Er habe den Eindruck, meinte K abschließend, daß das einzige, was an diesem Fall symptomatisch ist, sich darin erschöpft, daß der Mann "Dehnfuge" in allem sein soll, wo sie Spannungen zu sich, und das heißt: zur Welt, auszutragen hat.  Und was, wenn sie ganz einfach ... böse wäre? Wenn es ihr nie um eine Ehe,gegangen sei? "Meinst Du," schloß er seine Erzählung, "daß der Fall verwertbar ist für dich, einen Geschichtenerzähler? Er bleibt doch rätselhaft? Er bleibt doch poetisch?"

"Nein," meinte ich, und wog den Kopf hin und her. "Er ist zu spezifisch. Und in dieser Spezifizität zu umfassend. Er zeigt keine einfache, nachvollziehbare, typische Linie. Er ist bestenfalls Steinbruch."

"Nein," meinte K daraufhin. "Er ist nicht zu spezifisch, du irrst. Er ist universal! Er enthält alles. Man müßte ihn nur zergliedern, auf mehrere Fälle aufteilen! Dann wird er für den Betrachter nachvollziehbar."

Ich überlege es mir, meinte ich, trank meinen Kaffee zu Ende, und verabschiedete mich, nachdenklich geworden. Denn das ist das Problem der Kunst: Sie kann nur herausgreifen, aus dem Gewühle des Lebens, in dem sich so viele Schichten übereinander lagern, einzelne Linien sichtbar und damit nachvollziehbar, weil wiedererkennbar, zu machen. So befreit sie. Der Versuch, im Roman diese Komplexität sichtbar und katharsisfähig zu machen, ist bislang noch nicht wirklich überzeugend gelungen. Oder war das nur zu rationalistisch gedacht? 

War das nicht ein Katharsiskonzept, das im Grunde der "Entmythologisierung" der Protestanten entsprach, aber das Ganzheitsprinzip des Lebens, der Welt, sowie das Erkenntnisprinzip - deren Ansetzen im "Myon", in einer Art "mystischem" Erkennen - brach? Ist das Leben ins einer Ganzheit DOCH in der Kunst darstellbar? Ist eine zweite, eine genauso wirkliche Welt, vom Künstler schaffbar, in der aber - ein weiteres Paradox - Gott regiert, weil nur Gott universal sein kann, der Künstler nur mittelbar? Oder steht der Künstler über Gott, indem er eine ganze Welt darstellt, also darin auch ... Gott? Muß der Anspruch auf ein Werk dort enden? Bewußt? Oder tut er das ohnehin, es ist also nur klug, nur wahrhaftig, sich dort zu bescheiden?

Aber vielleicht lag der Schlüssel ganz woanders. Denn genau dort, wo die Vernunft der welt zu versagen scheint, steckt oft nichts anderes dahinter als die pure Lüge,  Gewissenlosigkeit, ja vor allem: Bosheit vermag tatsächlich solche Unspezifizität zu schaffen! Und sie ist vielleicht wirklich darstellbar. K hatte also vielleicht recht. Die Geschichte dieser Ehe war vielleicht wirklich nur die Geschichte der Bösheit. Und an die zu glauben, daran scheint es heute, seltsam genug, regelrecht Mangel zu haben. Dabei ist die Verwirrung der Menschen heute nur so begründbar. Nur unter dieser These erhellt sich das Dunkel, das uns umgibt. Nein, noch eine gäbe es - die Verrücktheit, die geistige Verworrenheit! Sie gleicht dem Bösen aufs Haar, nimmt aber der Geschichte das ... Böse eben, macht Platz für Erbarmen und Barmherzigkeit, ja Liebe.

Aber wie erzählt man solch eine Geschichte? Ist sie überhaupt erzählbar? Sind denn also, und man könnte in dieser Geschicht ein Exempel dafür sehen, die ganzen  universalen Geschichten dem unendlichen Buch vergleichbar, wie Paul Valery einmal meint, auf das die Literatur eigentlich hinstrebt, auf das, ja, jeder Literat, jeder Dichter hinstrebt: dieses eine Buch zu schreiben, als Summe aller Bücher, die nur noch Kapitel dieses einen Buches sind, das die Welt in sich trägt, ganz, als Streben der Welt überhaupt: wo Gott sich sich selbst, und in sich, im Geist, erzählt ...

Ist das nicht der Sinn der Kunst? Die alle Logik übertrifft, in sich birgt, im Paradox, das keinen Widerspruch mehr kennt, nur Umfassendheit, das aber dazu den Mut braucht, die Welt zu deuten, definitiv zu machen?

Ist dann also diese Geschichte doch wieder erzählbar, ja nicht nur das, erst recht : Parabel der Gegenwart? Auffangen der Verrücktheit der Zeit (denn: es ist die Norm geworden), im Paradoxon? Weil die Welt unter dem Anspruch bloßer, in sich geschlossener Rationalität - erstickt, verrückt wird, unter dem Anspruch des Lebens zerfällt, nur im Paradoxon heilbar wird?

Dann müßte man die Geschichte aber vielleicht gleich ganz von vorne beginnen: bei einem kleinen Jungen, der in die Maschine der Welt gerät ... Denn jeder, ausnahmslos, darf und kann sich auf diesen Jungen berufen, der er mal war. Und der er sein möchte.

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