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Montag, 28. Juli 2014

Jeder Krieg ist gerecht

Wie gefährlich und wie unzureichend es sein kann, vergangene Ereignisse unter gegenwärtigem Meinungs- und Stimmungshorizont zu beurteilen, zeigt sich nicht zuletzt in den Debatten über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Gerade die Fragen nach Schuldigen geht von Parametern aus, die keineswegs absolut (und in den meisten Fällen auch nicht gut, bestenfalls utopisch) sind - und Europa und das Rechtsgefühl der Menschen damals überhaupt nicht bestimmt haben.

Denn man ging selbstverständlich davon aus, daß es keinen "ungerechten Krieg" gäbe. Im Gegenteil, war jeder Krieg gerecht, und zwar a priori. Eine Unterscheidung in "Angriffskrieg" oder die Verurteilung eines Aggressors ist gleichfalls eine Folge des Ersten, noch mehr des Zweiten Weltkrieges. Diesen Begriff kannte man in dieser Form gar nicht.

Das Völkerrecht hatte nämlich nicht die Aufgabe, Kriege zu vermeiden! Sondern - Kriege zu hegen. Nachdem Krieg immer eine Bestie war, wollte man diese Bestie wenigstens zähmen. Verhindern konnte man sie nie. Der Fortschritt eines etwa im 16. Jahrhundert sich explizit herausbildenden Völkerrechts bestand also darin zu verhindern, Kriege nicht generell zu Vernichtungsfeldzügen und Bürgerkriegen werden zu lassen. Jeder Kombattant, jeder beteiligte konnte sich deshalb sicher sein, daß er als Rechtsperson auch im Krieg erhalten und respektiert blieb, und auch nachher, bei einer Niederlage, nicht der Vernichtung preisgegeben war, sondern seine Gestalt als Staat blieb. Bestenfalls wechselten die bestimmenden Herrscherhäuser, aber nicht einmal die Regierung selbst oder die Regierungsform. Deshalb waren die Kriege bis ins 19. Jahrhundert fast ausschließlich Kriege um die Thronfolge, schreibt Carl Schmitt in "Der Nomos der Erde". Ordnung war mit einem festen Raumgefühl verbunden, das prinzipiell niemand antastete und jeden in seinem Rechtsdenken gleich bestimmte. Wer einen Krieg begann, kämpfte um sein Recht, und er kämpfte um sein Recht in der Zeit (worin sich manche konkreten Formen und Bedürfnisse eben ändern). Davon ging man immer aus.

Kriege, durch Völkerrecht gehegte Kriege, waren also in jedem Fall legitime Mittel der Staaten, die an sich das Volk und seine Lebensweise gar nicht betrafen. Sie waren auch nicht "Mittel der Politik", sondern genau das nicht: Sie waren Rechtsmittel. Mittel und sogar Waffen waren aber geregelt. (Z. B. waren aus Gründen des Respekts vor dem Feind lange Zeit Waffen mit Fernwirkung innerhalb des europäischen Rechtsraumes - und nur den gab es ja! - verboten.) Nur gegen außerhalb dieser Ordnung stehende Völker und Gegner - denen damit auch der Status des "gerechten Feindes" abgesprochen wurde - waren diese Regeln nicht verbindlich. (Man denke an die Einfälle der Hunnen oder Mongolen oder Türken.)

Und deshalb hatte prinzipiell jeder Staat das Recht, Kriege zu führen. Sie waren im Rahmen der Gesamtordnung prinzipiell gerecht. Eine Unterscheidung in Verteidigung oder Angriff gab es nicht. (Wie schwierig, ja unmöglich nämlich die Klärung von Recht oder Unrecht zwischen zwei Staaten ist - davon wußte man sehr gut. Nur heute glaubt man, das untrüglich und sofort bestimmen zu können.) Und die Beteiligten hatten auch nicht das Recht, den - erklärten! - Feind zum Unrechtsträger zu verurteilen. (Gleiche können nicht über einander urteilen - jeder Staat aber war prinzipiell dem anderen gleichrangig gestellt.*) 

Die Frage, wer da nun zuerst schoß oder angriff, ist eine Frage, die man erst nach 1919 als Hilfsbegriff zu stellen begann, dessen Absichten aber evident sind: sie sollten unter anderem die Grundlage der Legitimität für Rache - und aus Angst - liefern. Also wurde auch der Feind zum "ungerechten Feind", zum Unmenschen erklärt, der sich, kriminalisiert, außerhalb des Rechtsrahmens darstellte. Während der gesamten Zwischenkriegszeit wurde in Europa über diesen Begriff diskutiert, und er stellte sich eigentlich als unklärbar (und unregelbar) heraus. Und er blieb es bis heute. Denn diese Frage liefert keinerlei Aufschluß über "Recht und Unrecht", und ein bloßes Festlegen auf einen status quo eignet sich um nichts mehr.**

In den Friedensverträgen von Versailles (Deutschland), St. Germain (Österreich) und Trianon (Ungarn) zeigten sich sehr klare Tendenzen, die traditionellen europäischen Raumbegriffe und Völkerrechtsnormen willkürlich zu verändern. Plötzlich sollte es den "verbrecherischen Krieg" eines Staates innerhalb der Rechtsordnung geben. Was so weit ging, daß die USA sie gar nicht unterschrieben, sondern Jahre später mit Deutschland einen separaten Vertrag abschlossen - denn diese Diktate enthielten Passagen, deren Völkerrechtswidrigkeit den Amerikanern bewußt war: Der Krieg als solcher war in den Augen der amerikanischen Vertreter keineswegs ein illegitimer verbrecherischer Akt.

Sie weigerten sich damit vor allem, den deutschen Kaiser zum Verbrecher zu erklären, eine neue Kategorie, die die europäischen Siegermächte einführen wollten. Und Holland verweigerte genau aus demselben Grund der Völkerrechtswidrigkeit (nach traditionellem Verständnis) die Auslieferung des nach 1918 dorthin geflohenen Wilhelm II an die Entente. Für die Amerikaner war - offiziell, weniger der Stimmung im Lande nach - nicht "ein Land" (oder Herrscher) Schuld am Krieg, sondern dieses verworrene, den Raum aushebelnde Bündnissystem Europas. Im Rechtsraum aber war jeder Fein ein "justus hostes", ein gerechter Feind. Selbst Kriegsverbrechen rechtfertigten das nicht, sie waren immer ein Problem des Krieges, und wurden separat behandelt, denn sie erst bezogen sich auf Personen, im Normalfall aber mit jedem Friedensvertrag per Generalamnestie erledigt. Zu sehr lagen sie der Natur des Krieges nahe.

Denn es war vor allem, und als Kriegsursache gewiß am substantiellsten, die stillschweigende Erodierung der jahrhundertelang manifestierten und gewachsene, damit tief begründete Raumordnung Europas, die im späten 19. Jahrhundert einsetzte, ohne daß jemand die Gefahr abschätzte, die daraus erst erwuchs, die die Grundlage für den Ersten Weltkrieg gab.  Man hielt einfach alles für disponibel - eine Eigenschaft, die mit dem Technikrausch des 19. Jahrhunderts in langer Entwicklung aus der Renaissance heraus zu einem nun fertig ausgebildeten Zeitbewußtsein wurde.

Die Menschen des industrialisierten 19. Jahrhundert hatten endgültig die Wurzeln verloren. Die dynamische und entfesselte Aufweichung der sozialen Strukturen gab den Menschen keinen Ort mehr in der Welt, und mit dieser Ortung verlor sich auch ihr Rechtsgefühl für ihren Staat. Dafür wurden ersatzweise nach und nach eine fast unübersehbare Fülle von Bündnis-, Garantie- und Beistandsverträgen abgeschlossen, die allesamt bereits außerhalb des großen Rahmens und diesem entgegenliefen, der Europa so lange stabil gehalten hatte.

Und das hat sich in den Überlegungen der Politiker der meisten Staaten direkt zum Ausdruck gebracht. Die damit auch Staatsgrenzen - zumindest unbewußt - für beliebig zu halten begannen. Und im eigenen Interesse gar die Vernichtung von Staaten zu erwägen begannen (wie im Fall von Österreich-Ungarn). Verliert sich also der große Rahmen, in dem jeder seinen Platz hat und gesichert weiß, beginnt auch der kleine Ort, der unter eines Füßen ist, zu verschwimmen.

All dies eingebettet in ein Weltgefühl, das die Dinge berauscht von Nutzen in Funktionen auflöst, und damit vergißt, daß es die Gestalten sind, die die Welt sind und halten. Gestalt aber wird im Transzendenten gestiftet und empfangen, und das - und nur das - begründet die nötige Ehrfurcht vor ihr und vor allem, vor der Welt. 

Wer einmal aber zu glauben beginnt, daß er Gestalten "erfinden" könne, hat die Welt bereits verspielt, selbst wenn sie überlieferten Gestalten "ähneln", nachgebildet sind (man denke nur an die unselige "Neu-"Gotik des 19. Jahrhunderts) oder sie willentlich zu formen anschickt. Was dann nur noch Korsette hervorbringt, etwas was dann ja die Faschismen versucht haben. Denn sie setzen eine Ehrfurcht voraus, die erst ein immer transzendent wurzelndes Ganzes, das immer in einer Ordnung steht, erkennbar und damit wirklich macht.




*Was so nebenher erklärt, warum deutsche Fürsten mit quasi allen Dynastien Europas verwandt wurden. Denn dort gab es viele Staaten, und damit viele ebenbürtige Heiratskandidaten für die übrigen europäischen Herrscherhäuser.

**Das zeigen ja auch sämtliche bewaffneten Auseinandersetzungen - deren völkerrechtliche und moralische Fragwürdigkeit sich ja gerade in der Vermeidung eines geregelten Kriegsprocedere ausweist: dem Feind wird sogar sein Status als Feind abgesprochen, er wird zum Unmenschen, zum Verbrecher - des 20./21. Jahrhunderts, gerade in Europa, wo mit dem "status quo" fast willkürlich umgesprungen wird, weil er eben in keiner Ordnung verankerbar ist.





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