Kiesling wußte, was er getan hatte. Als die Wende kam, war seine größte Angst, daß alles, was er bisher gemacht hatte, nun nichts mehr wert sein könnte.
Lob als Bumerang
Wer heute mit Kiesling redet, spürt schnell eine innere Zerrissenheit - als ob es mehrere Gerhard Kieslings gäbe: Da ist der begeisterte Fotograf, für den die "Fotografie bis heute das Schönste im Leben ist", der stolz ist auf seine Bilder und all die Berühmtheiten, die er fotografieren durfte: Bertolt Brecht, Marlene Dietrich, Thomas Mann. Und da ist der andere Gerhard Kiesling, der Angst hat, dass "jetzt alles nichts ist, was ich gemacht habe" und sein fotografisches Werk "zum Opfer der Wende" wird. Der sich dafür rechtfertigen muss, dass er angeblich das DDR-System verherrlichte, wo er doch nur das tat, was er immer am liebsten gemacht hat: fotografieren. Und damit wollte er "nur die Menschen so darstellen, wie sie waren".
Der Staat, in dem er arbeitete, zeichnete ihn aus, überhäufte ihn mit Medaillen und Preisen. Auf manche ist er heute noch stolz, zum Beispiel auf den "Kunstpreis der DDR", den er 1987 erhielt. Er habe "wunderbare Aufnahmen vom Sozialismus" gemacht, lobten ihn die Mächtigen des Arbeiter- und Bauernstaats - und als die DDR unterging, wurde das Lob zum moralischen Bumerang.
Einweihung Gedenkstätte Sachsenhausen |
"Wo sind denn die Werktätigen?"
Und Tabus gab es reichlich in der DDR: Die Mauer zu fotografieren, etwa. Bei einem Missgeschick eines Funktionärs auf den Auslöser zu drücken. Oder hinter den glänzenden Fassaden eines Staatsempfangs nach Motiven zu suchen, die nicht zur Inszenierung gepasst hätten. Die Angst vor der Bloßstellung beherrschte die Köpfe der SED-Funktionäre. So durfte Kiesling nicht über die erste Lebertransplantation in der DDR berichten. "Die haben wohl gedacht, wenn das schief geht, blamiert sich der ganze Staat."
Auf der anderen Seite gab es Motive, die in der Redaktion der "NBI" besonders gern gesehen und von den Zensoren durchgewunken wurden: Arbeiter, Kohleträger, alte Menschen, hübsche Frauen. Alles, was, wie Kiesling sagt, "den Touch des Schönen und Funktionierenden" hatte.
Doch das musste auch der junge Fotograf erst noch lernen. Gleich bei seiner ersten großen Fotoreportage, die er 1950 im Ostseekurort Sellin machte, lernte er seine wichtigste Lektion über das Fotografieren in der DDR. Er porträtierte Ort und Kurgäste, lichtete ein Ärzte-Ehepaar in Badesachen ab, "das war ein sehr schönes Bild". Doch Chefredakteurin Lilly Becher, Frau des Kulturministers Johannes R. Becher, war wenig angetan von den Aufnahmen: "Herr Kiesling, das ist eine Drei minus. Wo sind denn die Werktätigen?"
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