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Donnerstag, 4. November 2010

Bald habe ich mich selbst zensuriert

Der (ost-)deutsche Photograph Gerhard Kiesling spricht auf Spiegel online (Zeitgeschichten) sehr offen über seine künstlerische Tätigkeit zu Zeiten der DDR. "Ich habe mich ein bißchen selbst zensuriert," sagt er in seiner sympathischen Art. Was er aber berichtet sei hier als Metapher zu lesen. Denn auch wir akzeptieren diese Gehirnwäsche, diese ideologische Manipulation, bis in künstlerische Tätigkeiten hinein sogar! An der DDR freilich hängt das Etikett entfernter Betrachtung: "Diktatur."
Kiesling wußte, was er getan hatte. Als die Wende kam, war seine größte Angst, daß alles, was er bisher gemacht hatte, nun nichts mehr wert sein könnte.

Lob als Bumerang 

Wer heute mit Kiesling redet, spürt schnell eine innere Zerrissenheit - als ob es mehrere Gerhard Kieslings gäbe: Da ist der begeisterte Fotograf, für den die "Fotografie bis heute das Schönste im Leben ist", der stolz ist auf seine Bilder und all die Berühmtheiten, die er fotografieren durfte: Bertolt Brecht, Marlene Dietrich, Thomas Mann. Und da ist der andere Gerhard Kiesling, der Angst hat, dass "jetzt alles nichts ist, was ich gemacht habe" und sein fotografisches Werk "zum Opfer der Wende" wird. Der sich dafür rechtfertigen muss, dass er angeblich das DDR-System verherrlichte, wo er doch nur das tat, was er immer am liebsten gemacht hat: fotografieren. Und damit wollte er "nur die Menschen so darstellen, wie sie waren".
 

Der Staat, in dem er arbeitete, zeichnete ihn aus, überhäufte ihn mit Medaillen und Preisen. Auf manche ist er heute noch stolz, zum Beispiel auf den "Kunstpreis der DDR", den er 1987 erhielt. Er habe "wunderbare Aufnahmen vom Sozialismus" gemacht, lobten ihn die Mächtigen des Arbeiter- und Bauernstaats - und als die DDR unterging, wurde das Lob zum moralischen Bumerang.
 

Einweihung Gedenkstätte Sachsenhausen
Wenn Kiesling heute über seine Arbeit aus DDR-Zeiten spricht, wird der tagtägliche Drahtseilakt zwischen künstlerischen Freiheit und Auftragsfotografie schnell sichtbar. "Wenn ich irgendwo fotografieren wollte, habe ich es eigentlich immer geschafft", sagte er dann, er habe "nur wenige Dinge" nicht fotografieren dürfen. Aber gleichzeitig räumt er ein, dass er immer nur das fotografiert habe, von dem er glaubte, dass es veröffentlicht werden würde. Es gab also Motive, die einfach nicht fotografiert wurden. "Vor der Aufnahme habe ich mich ein bisschen selbst zensiert", erinnert er sich.

"Wo sind denn die Werktätigen?"

Und Tabus gab es reichlich in der DDR: Die Mauer zu fotografieren, etwa. Bei einem Missgeschick eines Funktionärs auf den Auslöser zu drücken. Oder hinter den glänzenden Fassaden eines Staatsempfangs nach Motiven zu suchen, die nicht zur Inszenierung gepasst hätten. Die Angst vor der Bloßstellung beherrschte die Köpfe der SED-Funktionäre. So durfte Kiesling nicht über die erste Lebertransplantation in der DDR berichten. "Die haben wohl gedacht, wenn das schief geht, blamiert sich der ganze Staat."

Auf der anderen Seite gab es Motive, die in der Redaktion der "NBI" besonders gern gesehen und von den Zensoren durchgewunken wurden: Arbeiter, Kohleträger, alte Menschen, hübsche Frauen. Alles, was, wie Kiesling sagt, "den Touch des Schönen und Funktionierenden" hatte.

Doch das musste auch der junge Fotograf erst noch lernen. Gleich bei seiner ersten großen Fotoreportage, die er 1950 im Ostseekurort Sellin machte, lernte er seine wichtigste Lektion über das Fotografieren in der DDR. Er porträtierte Ort und Kurgäste, lichtete ein Ärzte-Ehepaar in Badesachen ab, "das war ein sehr schönes Bild". Doch Chefredakteurin Lilly Becher, Frau des Kulturministers Johannes R. Becher, war wenig angetan von den Aufnahmen: "Herr Kiesling, das ist eine Drei minus. Wo sind denn die Werktätigen?" 
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