Zwischen (wissenschaftlichen, Anm.) Auffassungen und ihren Beweisen besteht in der Wissensgeschichte kein formal-logisches Verhältnis: die Beweise richten sich ebenso oft nach den Auffassungen, wie umgekehrt die Auffassungen nach den Beweisen. Die Auffassungen sind eben keine logischen Systeme - so sehr sie es jederzeit sein wollen - sondern stilgemäße Einheiten, die sich nur als solche entwickeln und vekrümmern oder in andere mit ihren Beweisen übergehen.
Ist ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem, das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht, einmal geformt, so beharrt es beständig gegenüber allem Widersprechenden.
Nicht um bloße Vorsicht handelt es sich, sondern um eine aktive Vorgehensweise, die in einige Grade zerfällt:
- Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar
- Was in das System nicht hineinpaßt, bleibt ungesehen, oder
- es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder
- es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt.
- Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die den herrschenden Anschauungen entsprechen, d, h. die sozusagen ihre Realisierung sind - trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen.
Jede Epoche hat herrschende Auffassungen, Überreste vergangener Anlagen zukünftiger, analog allen sozialen Gebilden.
Ludwik Fleck, in "Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv"
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Was Fleck tut ist natürlich nicht ein Entwerten aller Wahrheit dadurch, indem der Wahrheitsfindungsprozeß zum Argument für die Ent-Absolutierung von Wahrheit macht. Er sieht aber völlig richtig, daß Wahrheit und Erkenntnis ein tief sozialer Prozeß sind, und daß Wahrheit und Persönlichkeit untrennbar zusammengehören. Er wendet sich gegen den Rationalismus des Wiener Kreises, dem Wahrheit nur ein logizistisches Spiel von "absoluten Werten" sein sollte. Eine solche Wahrheit aber gibt es nicht. Dennoch entwertet das nicht die Wahrheit an sich. Wir wissen, ja, wissen, weil streng logisch (seit spätestens Gödel) gezeigt, daß jedes formale System sich selbst nicht beweisen, sich nicht verifizieren kann. Dazu braucht es ein Drittes, ein Außenstehendes. Fleck schließt an alle diese Erkenntnisse an. Und im Grunde zeigt er nur, warum sich Wahrheiten oft so schwer durchsetzen, und wie es zugeht, daß sich gaze Epochen - ausgehend von ihrer "Stimmung" - in scheinbar "wissenschaftlich erwiesenen Meinungen" sehr weitgehend irren können. Er zeigt, wie sich Wahngebilde festsetzen können, die aber enorm fest im Sattel eines Zeitgeistes sitzen können, der auf den Einzelnen rückwirkt.
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