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Montag, 1. November 2010

Einsetzende Wirklichkeit

Henri Thode macht eine interessante Bemerkung, als er die Art beschreibt, wie die Kreuzigung Christi bis ins 13. Jhd., bis Giotto, unter Rückgriff auf die byzantinische Kunst, dargestellt wurde.

Er schreibt, daß bis Giotto Christus wie ein Gott wirkte, der gar nicht wirklich an seinen Martern litt. Standen Maria und Johannes unter seinem Kreuz, so nahm (bzw. nimmt) man deren Schmerz lediglich als Abschiedsschmerz wahr. Aber Christi Leiden hatte für den Beschauer keine Wirklichkeit, was er sah hatte nur symbolischen Charakter.

Erst in einer kulturellen Bewegung mit dem Hl. Franziskus beginnt Christus plötzlich wirklich zu leiden, und zu sterben, und sind seine Mutter und der Apostel gezeichnet von tiefstem Schmerz. Erst jetzt streiten die Soldaten um seinen Mantel, erst jetzt bekehrt sich Longinus, der Römer mit der Lanze, und erst jetzt umflattern die Engel verzweifelt den Herrn. Ja es ist sogar nun genau der Schmerz Mariens, der für den Betrachter am meisten nachvollziehbar macht, was da geschieht, was dargestellt ist. Denn was etwas ist, macht sich an seinen Wirkungen erfaßbar. Durch Maria wird somit das Leid Jesu, und die Schuldigkeit eines selbst als innere Reaktion, erfahrbar. Die Heilsgeheimnisse werden auf eine neue Weise (wieder) gegenwärtig.

Durch Maria, und an Maria, lernt die Kunst ab dem 13. Jhd. menschliche tiefste Empfindungen auszudrücken. Maria wird - aufbauend auf der Verehrung des ewig Weiblichen, wie es im späten Mittelalter in der Minne ohnehin geschah - so zur Hauptfigur der Renaissancekunst.

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Nur auf den ersten Blick ist die Entwicklung im 13. Jhd. widersprüchlich - in Franz v. Assisi streitet zwar der "störrische Esel Leib" gegen den Geist, und Franz behandelt ihn auch nicht gut, wie er selber dann sagt. Aber die Stigmatisierung, die ihm dann zuteil wird, liegt auf einer Linie: im Leib, im Fleisch, in der Schöpfung soll das Ewige bereits sichtbar werden, wird das Paradies "gepackt und auf die Erde gezwungen" (Viktor Leum) Nicht zufällig in dem Jahrhundert, in dem die Naturwissenschaft ihren entscheidenden Anlauf nimmt, weil man die Natur in ihrer Ursprünglichkeit als Selbsterzählung Gottes, der Wahrheit, begreift.

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