Dieses Blog durchsuchen

Montag, 1. November 2010

Mehr sehen!

"Es wird weder methodisch argumentiert noch autoritativ verkündet [...] - es wird eine bestimmte Art des Sehens eingeübt, und in eine bestimmte Art des Sehens eingeführt, eines Sehens, das in unserer Kultur oft auf eine erschreckende Weise verkümmert ist. Es handelt sich um ein Sehen von Urphänomenen und von wesentlichen Ähnlichkeiten.

Dieses Sehen kann und soll weder die Wissenschaften noch den christlichen Glauben ersetzen. Es liegt vielmehr der Wissenschaft ebenso wie dem Glauben als deren gemeinsame Wurzel zugrunde. Mit seiner Verkümmerung müssen beide degenerieren: die Wissenschaft wird destruktiv, und der Glaube wird blutleer. 

Das Sehen von Ähnlichkeiten geht aller Wissenschaft voraus. Der Gebrauch von Begriffen ist nur möglich, wenn wir Dinge und Ereignisse als ähnlich zu sehen imstande sind. Jeder sieht solche Ähnlichkeiten. Worauf es ankommt ist, wesentliche Ähnlichkeiten sehen zu lernen. Wo z. B. das Phänomen des Lebendigen, der Pflanze, des Tieres oder wo die Schönheit eines Kunstwerks nicht gesehen wird, da wird die wissenschaftliche Erklärung die Phänomene am Ende einfach wegerklären oder als bloß subjektive, unerhebliche "Ansichten" beiseite tun. 

Die gegenwärtige Gestalt wissenschaftlichen Denkens ist durch einen solchen Sehverlust und eine entsprechende destruktive Tendenz gekennzeichnet. Die gegenwärtige Anämie des Glaubens aber hängt mit dem gleichen Verlust zusammen. Der Glaube hat heute weitgehend einen kognitiven Anspruch aufgegeben, seinen Anspruch auf eine ebenso wahre wie substantielle Deutung der Welt, des Lebens und der Geschichte."

"Aufgrund der erstaunlichen Gemeinsamkeit echter spiritueller Erfahrungen in allen Zeiten und allen Kulturen integriert diese Tradition auch fernöstliche Überlieferungen, während die heute modischen Asienimporte meist auf tiefer Unkenntnis der abendländischen Geschichte meditativen Sehens beruhen und gerade deshalb auch zu keinem tieferen Verständnis solcher Importe führen. Aber diese Unkenntnis ist ja nicht zufällig. Sie hängt mit jenem Defizit, jenem Sehverlust zusammen, von dem ich anfangs sprach. Ein Gefühl des zivilisatorischen und religiösen Leerlaufs breitet sich aus und nagt die Seelen an."


Die ganze Verkündigung des Neuen Testaments zielt auf das Heranwachsen von gnostischen, reifen, erleuchteten Christen ab, zitiert Spaemann Kardinal Martini. Und holt ein Wort von Johannes Paul II. hervor, der in Paris ausrief: "Frankreich, bist du noch im Bund mit der Weisheit?"

Weisheit freilich, so Spaemann, ist aber - anders als Glaube, der eine Gnade ist - erlernbar, ist eine Disposition des Geistes, in die eingeübt werden kann - vorausgesetzt, daß der Hörende in der entsprechenden Disposition - geistig wie körperlich (die Liturgie, als exemplarischer Ort des Zusammentreffens von göttlichem Geist und Mensch, braucht auch eine entsprechende Haltung des Teilnehmenden!) - ist.

Robert Spaemann, im Vorwort zu "Die großen Arcana des Tarot" 
des Anonymus von D'Outre-Tombe (= Valentin Tomberg)

 
*011110*