Teil II) Wo sich der Kreis schließt - und wo er sich nicht schließt
Anders die Mystik des Abendlandes, die auf der Metaphysik Platos und 
Aristoteles aufbaut: Für sie ist alles Seiende nur insofern, als es 
ANTEIL am Sein hat. Diesen Anteil kann es verlieren, es kann nicht mehr 
sein, ins Nichts fallen. Nur insofern also hat alles Anteil am Sein, als
 es indirekt nur dann ist, als es gut und schön ist! Das ist etwas dann,
 wenn es seine eigene Aufgabe am vollkommensten erfüllt - je nachdem, 
was es ist. (Es gibt also ein Sein der Dinge, der Ideen.)
Deshalb ist alles Schöne (hier eint sich das Christentum 
mit der antiken Auffassung) auch gut, und deshalb IST alles, insoweit es
 schön ist. Je mehr etwas also es selbst ist - aus eigener Kraft, aus 
eigenem Willen, am Sein teilzuhaben (zu "sein" ist also hier nur 
bedingungsweise gemeint) Dieses "Denkkonzept" hat also Raum für 
menschliche Freiheit! Denn es ist vom Menschen verlangt, sich für das 
starke Selbstsein zu entscheiden. Alles Seiende hat hinter sich einen 
"Willen", ganz zu sein - die Liebe. Der Mensch, der selbst lieben kann, 
ist also am vollkommensten Gottes Ebenbild, je mehr er liebt. Denn desto
 mehr IST er.
Während der Neuplatonismus seine höchste Erfüllung im 
Hineinsinken ins Alleine sieht, das er erreicht, indem er sich auflöst: 
das Seiende hat keine spezifische Aufgabe, der Kosmos ist im Grunde eine
 Störung des Alleinen, nach dem alles strebt (interessant: es findet 
sich hier also mit der Entropie, dem Zerfall in den alles treibt, das 
keine Energie aufbringt bzw. zugeführt erhält - verliert, sich damit, 
auch physikalisch, in ein abstraktes Gesamenergetisches zurückzieht). 
Denn im Neuplatonismus ist alles umso reiner SEIN, weil direkt Sein, als
 es nicht durch Individualisierung in Dinge von ihm quasi separiert. Die
 Dinge sind belanglose, ja wie Warzen im Gesicht des Seins.
Im Christentum hat alles auf je gleiche Weise Anteil am Sein - 
wenn auch hierarchisch abgestuft, alles an seinem Platz! Je mehr also 
ein kleines Seitenrad "kleines Seitenrad" ist, umso vollkommener ist es.
 Gleiches gilt für den Kaiser. Im Neuplatonismus hat das kleine 
Seitenrad aber weniger Sein, sonst ... wäre es Kaiser, der das Sein mehr
 ausdrückt, als das kleine Seitenrad. (Da finden wir also sogar im 
Lutherismus diesen Neuplatonismus aufgelöst, wo die Höhe der weltlichen 
Stellung etwas über die Nähe zu Gott aussagt!)
Bleibt noch die Frage, wie sich der Wille des Alleins mitteilt? 
Im Neuplatonismus sind es die göttlichen Kräfte, separiert, in den 
Polytheismus hinein aufgelöst, der ja auch Hierarchien kennt, und direkt
 einwirkt. Im Christentum sind es die Hilfswesen der Engel, die als rein
 geistige Wesen keine körperliche Wirkmöglichkeit haben, sondern eben 
nur geistig wahrnehmbar (und nur insofern wirksam) sind. Deshalb ist ihr
 Medium auch das Wort, weil ihr Sein auf den Geist beschränkt: es ist 
das Wort (Gottes, weil auch ein Guter Geist nur Gottes Wort 
weitererzählt) das bewirkt, daß etwas ist. ("In principio erat verbum, 
et verbum erat apud Deum ..." - "Im Anfang war das Wort, und das Wort 
war bei Gott, und das Wort war Gott ...") Entsprechend ist es das "Herz"
 des Menschen, das die Fähigkeit zur Vollkommenheit ausmacht: es hört 
(hören - Gehorsam ...) das Wort, und das Wort wird in ihm bewegende 
Kraft. So wird der Mensch (ja, sein Herz!) Symbol für die Wahrheit.
Und damit sollte sich der Kreis schließen: denn hier greift 
wieder die Vernunft, die allem innewohnt weil alles strukturiert (weil: 
wo keine Vernunft, fällt die Dingwelt ins Nichts), und in der es keine 
Graduierung gibt, die vom Inhalt abhängt, sondern die an der Wahrheit 
teilhat, egal in welchem Stadium und in welcher Konkretion.
Man kann es hier nur andeuten, nur anreißen - 
keine Bibliothek der Welt kann es ganz ausverbalisieren, so sehr das 
versucht wurde und wird. Daß ein Anlaß vorlag bzw. vorliegt, das Thema 
zu behandeln, darf der geneigte Leser aber annehmen.
Treibgut - Wo am breiten Strome die Ufer stehen, sind Schwarzerlensamen aufgegangen, und schäumen als saftige Büsche die Ränder der großen Lethe, die alles ins Dunkele Meer trägt; ihre weichen Äste, die noch nicht ahnen lassen, welcher später als kahler Stamm reife Blätter hoch in der Sonne wiegen wird, tauchen in die Wasser, wie Kinderhände. Dann und wann greifen sie, denen alles noch ernstes Spiel ist, nach Treibgut. Oder es bleibt hängen, lädt zum Tanze, haucht im Kusse Lebwohl
 
