Miyamoto Musashi (1584-1645) |
Der langjährige US-Botschafter in Japan, Edwin O. Reischauer, ein profunder Kenner Japans, erklärt im Vorwort von Musashi (von Eiji Yoshikawa) - einem alleine in Japan in bislang 110 Millionen Buchexemplaren gedruckten Epos um einen legendären Samurai, verfaßt in den 1930er Jahren - den Unterschied zwischen einem Epos wie Clarell's Shogun und Musashi, das in Japan zum Volksgut geworden ist. Beide Geschichten spielen zwar in etwa in derselben Epoche Japans, doch unterscheiden sie sich nicht einfach durch die soziale Schichte - Clavell den Adel und die Herrscherhäuser, Yoshikawa erzählt einfach die Geschichte des Samurai in einer Zeit des Zerfalls, der in über 60 Schwertkämpfen auf Leben und Tod als Sieger hervorging - sondern Clavell benutzt die Kulisse Japans nur als Folie, um seine westliche Vorstellung von Japan in Form einer Liebesgeschichte, die es so in Japan nie gegeben haben kann, abzuspielen.
Clavell's Buch bleibt also amerikanisch-westlich. Yoshikawa hingegen zeigt die faktische, nicht westlich ausgedeutete (wenn auch: ausdeutbare) Seele Japans, schöpft seine Motive aus der Gefühls- und Geisteslage des Japaners. Entsprechend "japanisch" - episodisch, nur "gefühlt dramaturgisch" - ist auch die Handlungsführung. Shogun ist nur eine westliche Vorstellung - in historisierendes Kleid gesteckt. Yoshikawa's Epos IST Japan.
Seine Geschichte spielt zwar vor derselben Folie der historischen Ereignisse, in der ersten Hälfte des 17. Jhds., wo Japan nach blutigen Entscheidungen in inneren Machtkämpfen die christliche Mission auslöschte und sich für 200 Jahre völlig von allen Außeneinflüssen abschottete. Ja, beide Geschichten "greifen" fast ineinander.
Yoshikawa bleibt in allen Details aber unvergleichlich "historischer", als Clavell es je vermocht, vor allem aber gewollt hatte. Clavell's Geschichte könnte überall spielen, er benützt die Geschichte Japans nur als Steinbruch für seine Vorstellungen, sein Zielpublikum ist amerikanisch westlich, seine Figurenmotive sind für Japan undenkbar und unplausibel. Musashi kann es nur in Japan geben, wer es liest kommt mit japanischem Wesen und damit japanischer Geschichte in Berührung.
Klarerweise zeigt sich das am Aufbau der Erzählung: Shogun folgt dem abendländischen Erzählaufbau eines alles übergreifenden dramaturgischen Bogens, einer Richtung, wo ein Schritt den nächsten zwingend nach sich zieht, und Dramaturgie somit die Enträtselung des überaus komplexen, und deshalb "geheimnisvollen" Motivbündels ist, als das sich Geschichte darstellt. Musashi fehlt, wie der gesamten japanischen Erzähltechnik, dieser Gesamtaspekt. Es ist episodisch aufgebaut, die Episoden selbst stehen für sich und sind keinem logisch verfolgten, sich evolvierenden Gesamtziel untergegliedert.
Der christliche Abendländer, auf dem Boden der Philosopie von Aristoteles und Plato, sieht das Geschichtsrätsel im Ganzen klar, erkennbar und aufgelöst in Sinn. Erkenntnis ist das Finden jenes Grundmotivs, das ein Ganzes immer besitzt und besitzen muß, sonst gäbe es dieses nicht. Erzählen selbst passiert also an der Hand der Teleologie. Wo dieses ordnende Ganze, der Sinn, fehlt, bleibt - am Theater ist das gerade heute wieder deutlich zu sehen - nur die Kraft der Episode, der Einzeleindruck, das Ästhetisierende bzw. Ästhetische, das "Beeindruckende". Das Erhellende aber fehlt. So sehr die Poesie des Ganzheitlichen, auch als Träger der Katharsis, mit der Poesie der Einzelepisode die Schnittmenge darstellt, wo sich Kunst als "Fenster zur Transzendenz" entscheidet bzw. abspielt.
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Musashi (wie Shogun) spielt übrigens in einer Periode, die nach Jahrzehnten unruhigen Werdens einen weitgehenden Umbau der japanischen Gesellschaft brachte. Die zahlreichen Samurai - die Kontrollorgane des Herrschers über seine Lehensnehmer - die nach der entscheidenden Niederlage gegen die neuen Herrscher nunmehr herrenlos durchs Land streiften, wurden nach und nach besiegt. Zugleich schien ihre Kampftechnik überlebt: die Portugiesen hatten das Schießgewehr ins Land gebracht, und es war künftig am Schlachtfeld die überlegene Waffe.
Zugleich stellte sich heraus, daß in den nun folgenden langen Friedenszeiten für die Beherrschung des Landes Fähigkeiten im Bereich der Verwaltungstechnik weit nützlicher und notwendiger waren, als die Fähigkeit zum Schwertkampf. Dieser wurde mehr und mehr von einer Kampfwaffe zu einer Kunsttechnik, deren Hauptzweck in der persönlichen und ästhetischen Erziehung des Kämpfers bestand, nicht mehr in ihrem Kampfwert in Schlachten. Musashi z. B. war bald als Maler und Bildhauer gleichermaßen berühmt, wie als Schwertkämpfer.
Obwohl die Samurai als Stand den neuen - ökonomischen - Schwerpunkt der Gesellschaft kaum mehr nachvollziehen konnten, und wenn nicht in Armut so zumindest in den Geruch von "Seltsamkeit" absanken, stammte die führende Schichte Japans bis ins 20. Jahrhundert meist aus ehemaligen Samurai-Familien. Ähnlich den europäischen Ritter-Legenden verkörperte sich im Samurai das innerste, beste Japan, als Grundlage der Ethik des Landes. Bis heute sieht sich der Japaner am liebsten und richtigsten an der Selbstdisziplin der Samurai orientiert, an ihrem Idealismus, an ihrem Kunstsinn. Jeder Japaner sieht sich im tiefsten Inneren als "kleiner Musashi".
Aber das ist auch in Europa nicht anders. Und es ist die vielleicht sogar entscheidende Funktion des Mythos, der Legende, der Sage, der Erzählung: sie klärt im Ursprung das, was allem zugrundeliegt, sodaß alle Geschichte das Ringen um ein reines Urbild darstellt.
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