Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 4. September 2009

Eine Frage der geistigen Triebkräfte

Wer sich intensiver mit Geschichte befaßt, dem ist bald die Jahreszahl nur ein Merkmal der Einordnung unter anderen, aber kaum mehr. Denn mehr und mehr erheben sich aus den Ereignissen und Geschehen ganz neue Konturen und Reliefs, die ein völlig verändertes Nahe- und Fernverhältnis ergeben. Ja: plötzlich wird im Erfassen der wirklichen (=wirksamen) Hintergründe geschichtlicher Entwicklungen alles nahe, weil in der Gegenwart in absolut gleichem Maß als präsent erkannt. Darum wundert man sich immer öfter über so viele, die meinen (in der Gegenwart) Neues erfunden und entdeckt zu haben, das bei ein wenig Kenntnis der Geschichte (auch: des Theaters, der Kunst) so rasch als "längst gewesen" erkennbar würde. Kommt dazu noch (die heute immer seltener werdende) wirkliche Kenntnis des (immer gleichen) Menschen, aus seinen tiefsten Wurzeln, Antrieben und Entelechiekonflikten heraus, wird auch Gegenwart verstehbar und Zukunft damit sogar erst möglich.

Ein wünschenswerter Nebeneffekt davon ist, daß der, der die Geschichte kennt, rasch aufhört, sich und seine Gegenwart so grotesk zu überschätzen, wie das heute üblich geworden ist. In einer Zeit, die in Stillstand, ja in fatalen Rückschritt verfallen ist, der dem Stillen, dem Außenstehenden, dem Fremden, umso mehr auffällt, als das Getöse der Illusion, das Bewegung und Entwicklung vortäuschen soll, alle Sinne längst benebelt, und die Leere, die in Wirklichkeit heute so bedrohlich herrscht und in ihren Sog, dem Internationalismus, die ganze Welt erfaßt zu haben scheint, zu kaschieren sucht. Hinter dem Lärm der Plappermäuler aber hört man sie, die gespenstische Ruhe vor dem Hurrikan ...

Das aber vermittelt zugleich eine ungeheure Hoffnung: jeden fatalistischen "Schicksalskreis" zu durchbrechen, jederzeit. Und ihn durchbrechen zu können, weil der Mensch seit Christus über Quellen verfügt, die das Ewige, Unvergängliche, JEDERZEIT präsent halten, und in der Tugend, im Fleisch, in das es über die Sinne hineingelangt, zu dem es geworden ist, historisch wirksam machen. So bricht sich jede Verzagtheit!

"Eines der schönste Erlebnisse, das das historische Studium zu vermitteln vermag, ruht in dem Augenblicke der Erkenntnis, daß alle zeitlichen Grenzen willkürlich sind. Nichts unterscheidet das Altertum zeitlich vom Mittelalter, kein irgendwie zeitlich zu empfindender und zu fixierender Einschnitt, es sei denn der eines geänderten Denkens, der aber niemals an ein festes Datum gebunden werden kann. Nicht die Epochen entstehen und vergehen, sondern die geistigen Ereignisse und Bewegungen in ihnen; wenn alle ausgelegt und vollendet sind, endet mit ihnen selbst die Epoche.

Daß auch der Tod eines Einzelnen für das Ende einer Epoche stehen kann, ist einer der größten Triumphe des menschlichen Individualismus über die Zeit, der Tod Alexanders des Großen, Cäsars, Christi. Aber ebenso gewiß ist es, daß geistige Bewegungen solange bestehen, als eben Triebkraft in ihnen ist, wenn sie auch noch lange mit denen ihrer Umgebung, die indessen aufgewachsen sind, zu kämpfen haben.

Joseph Gregor; in "Weltgeschichte des Theaters", 1933




*040909*