Burdach (und nicht nur er) wehrt sich generell gegen so manche "schulmeisterliche Primitivisierung" der Geschichte, unter anderem in Epochen, wie sie vor allem im 17. Jahrhundert (und hier mehrheitlich aus protestantischen Schulstuben) entsprang. Dieser unseligen Haltung auch ist es zu verdanken, daß das Mittelalter als quasi "illegitime Unterbrechung menschlicher Kultur", als "dunkles Zeitalter" gesehen wurde, und über Jahrhunderte in diesem Nachplappern tradiert, gesehen wird. Alles das ist völlig unzulässig, weil geistesgeschichtlich nicht wahr, und wie so vieles dem Reich bloßer Legende zuzuordnen.
"Vor kurzem hat Karl Zeumer in einer auch für ungelehrte Geschichtsfreunde lesenswerten Schrift den überraschenden Nachweis geführt, daß der allbekannte Ausdruck "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" nicht, wie wir in der Schule lernten und seitdem als unumstößlich betrachteten, im Mittelalter geformt und gebraucht wurde, sondern erst im 17. Jahrhundert eingeführt worden ist. Auch unser Begriff und unsere Begrenzung von Renaissance und Mittelalter sind ein Produkt dieses 17. Jahrhunderts, und sie wurden dadurch nicht wahrer, daß große Geister wie Winckelmann und Goethe, Heine (mit seiner unseligen Dualismustheorie, die bis heute fortwirkt, und Geschichte in den Wechsel von Nazarenertum und Hellenismus verlegt, Anm.), Burckhardt und Nietzsche, aus ihrem Eigenbesitz etwas dazu getan haben.
Dieser Begriff, den jedes Jahr in allen Kultursprachen Hunderte wissenschaftlicher und populärer Bücher, zahllose Zeitungsaufsätze, mannigfache poetische Gestaltung immer wieder verkünden, der uns allen seit der Schulzeit in Fleisch und Blut übergegangen, er ist eine wissenschaftliche Legende, die Erbschaft einer Zeit, die weder die Fähigkeit noch den Willen besaß, eine geistige Bewegung geschichtlich in ihrem Wesen und Ursprung zu ergründen."
Dazu bleibt nur noch zu bemerken, wie wenige es doch jeweils in einer Generation (und Szenerie) sind, bei denen gebräuchliche Begriff von oft dramatischer Bedeutungsweite wirklich durchdacht und verstanden sind ... ja, auf wieviele weitgehend unreflektierte Gedanken und Schlagworte der Zeitgeist, aber auch gar mancher Wissenschaftszweig, auch heute zurückgreift.
*050510*