"Ein römisch-ägyptisches Portrait auf einer Mumienumhüllung ist eine ebenso reale Tatsache wie die zeitgenössischen Sätze von Euklid. Vesal begründete in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Wissenschaft der menschlichen Anatomie; ein Jahrhundert früher aber hatte Jan van Eyck die Seele des Menschen in seinen Portraits zergliedert, und wer könnte sagen, welches die realste Tatsache ist - ein sezierter Leichnam im Spital St. Jean in Brügge oder das Portrait von Margaret von Eyck im Musée Communial derselben Stadt?
Der Wissenschaftler wird geltend machen, daß der Blutkreislauf eine verifizierbare Tatsache ist, was aber ist dann das van-Eyck-Portrait - eine Pseudo-Erklärung, wie der wissenschaftliche Philosoph sagen würde, *ein einen Gefühlszustand ausdrückendes Symbol*? Weshalb nennen wir dann van Eyck *den erschöpfendsten und quälendsten Interpreten der menschlichen Natur*, der jemals gelebt hat (Panofsky)? Der weitestgehende Anspruch, der für die Wissenschaft geltend gemacht werden kann, ist der, daß sie die Geschichte der Natur ist. Der weitestgehende Anspruch, der für die Kunst geltend gemacht werden kann, ist der, daß sie die Schaffung von Natur ist - daß sie eine völlig autonome Welt ins Leben ruft.
Dies ist der extreme Standpunkt von André Malraux; ich für meinen Teil begnüge mich damit, geltend zu machen, daß sie die vorhandene Welt erweitert, sie durch neue Tatsachen, durch Elemente vergrößert, die dem menschlichen Erlebnis Dauer verleihen."
Read greift, wie er sagt, nicht die Wissenschaft an, sondern nur deren heute vorgetragenen "Anspruch, die einzige ausreichende Grundlage der Philosophie zu sein oder mit der Vernunft selbst identisch zu sein."
Herbert Read in "Formen des Unbekannten"
*080410*