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Sonntag, 11. April 2010

Inadäquates Wissen wirkt entsittlichend

Soeben war Wilhelm Meister durch ein Teleskop der Anblick des solcherart stark genäherten Jupiters mit seinem Trabanten entdeckt worden. Da trat er zurück, und wandte ein:

"Ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll, daß sie mir dieses Gestirn so über alles Maß näher gerückt. Als ich es vorhin sah, stand es im Verhältnis zu dem übrigen Unzähligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in meiner Einbildungskraft unverhältnismäßig hervor, und ich weiß nicht, ob ich die übrigen Scharen gleicherweise heranzuführen wünschen sollte. Sie werden mich einengen, mich beängstigen.

[...] Ich begreife recht gut, daß es Euch Himmelskundigen die größte Freude gewähren muß, das ungeheure Weltall nach und nach so heranzuziehen, wie ich hier den Planeten sah und sehe. Aber erlauben Sie es mir auszusprechen: Ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel. wodurch wir unseren Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittliche günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner inneren Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen."



J. W. v. Goethe in "Wilhelm Meisters Lehrjahre"



Leopold Ziegler schreibt dazu einmal, Goethe habe sich nie davon abbringen lassen, und nichts und niemand vermochte ihn je zu erschüttern in seiner glaubensähnlichen Überzeugung, der eine und ungeteilt ganze Mensch sei das vollkommenste Werkzeug, sei der vollkommenste Sinn der uns bekannten Welt und stehe deshalb für jedes sonstige Instrumentarium und Arsenal. Und damit zeigt er, daß Naturwissenschaft nach wie vor jedem, wirklich jedem offensteht, auch ohne Apparaturen und Hilfsmittel - so wie Goethe sich nie beirren ließ, von der Anatomie über Physik und Geologie jedes Wissensgebiet unbefangen zu erobern, das ihn interessierte.

Denn das Entscheidende an der Erkenntnis ist ihre Überführung und Gliederung in Vernunft, ist die richtige Relation, das Insgesamt - das Kriterium selbst ist nicht die Menge an spezifischer Information, der "künstlichen Nähe der Objekte". Denn dem Übergewicht an äußerer Welt (durch zuviel Detailinformation) entspricht, so argumentiert Ziegler (nach Freudscher Diktion), auch ein Übergewicht an äußerer Libido, die mit jedem Gramm vom Innenleben abgezogen wird, das sie außen zulegt. Damit stürzt der Mensch - wir sprechen hier auch von Technik, die an sich genau solcher "Detailkonzentration" entspricht und einer Ordnung bedarf - in ein Ungleichgewicht, das durch erhöhten Aufwand persönlicher Kultur wiederhergestellt werden muß.

Geschieht dies nicht, wird das Innenleben durch die nunmehr unmäßig geöffnete Wahrheit tragikomisch verstellt, und durch in die Tiefe gedrängte ungeformt bleibende Libido dämonisch verzerrt.




*120410*