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Mittwoch, 15. Dezember 2010

Lebensbrechung

Die Brutalität und Kälte, mit der man aus Lebensschicksalen Figuren gerinnen läßt, muß für andere schrecklich sein. Ist man überhaupt Mensch? Ich frage mich manchmal, ob dieses Zeitalter der Schamlosigkeit nicht die Profanierung des Höchsten war - der schonungslosen Distanz und schöpferischen Neuschaffung, wie sie der Kunst zu eigen war, die sie im selben Atemzug verloren zu haben scheint. Diese Verrücktheit, diese Respektlosigkeit, diese Schamlosigkeit, aus Lebensfakten Spiele zu machen, um sie so, genau so, aus der Banalität zu heben, ihre Poesie zu bergen.

Schon versinkt das "Gewesene" in die Bedeutungslosigkeit, interessiert nur noch das "Allgemeingültige", das man aus diesen Fakten konstruiert. Weil es einen anspringt, weil man "angeregt" wurde. Angeregt. Wovon?

Zunehmend denke ich: Macht man es auf Facebook anders? Wo man ein Bild von sich erschafft? Könnte es nicht sein, daß dieses auch zuweilen wahrer ist, als die "Wirklichkeit"? Sieht man vom Umstand ab, daß Facebook - zumindest: noch - "ernstes" Leben ist, oder sein will. Erst, wenn man es wirklich zur abgeschlossenen Bühne erklärt, zum Kasperletheater, in dem sich die Menschen ihre Kunstwelten inszenieren, bewußt, mit Abstand, als kathartischen Vorgang, dann wird das so sein, zweifellos. Es geht ums "ernst".

Wie diese Dimensionen aber verschwimmen ... Neue Tragödien tun sich auf: das Opfer, das man umsonst hingibt, zum Beispiel. Das einer Schimäre aufsitzt. Wo sich Wirklichkeit und Faktizität seltsam ineinanderschieben. Kunst muß freies Werk und Spiel sein, sonst ist sie nicht.

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In den Zettelkasten ordne ich skrupellos ein: Sopranistin, Rumänin, hat seit eineinhalb Jahren große Stimmprobleme, sieht ihre Zukunft gefährdet, kann mit dem Makel nicht mehr leben. Eines Tages tauscht sie ihr Bild auf Facebook aus - anstelle eines Portraits findet sich nun ein Ausschnit aus einem Szenenphoto, auf welchem ihre mit Theaterblut verschmierte Hand zu sehen ist. Am nächsten Tag findet sie ihr Ehemann mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne.

Sie sei immer schon eine eigenartige Person gewesen, meint dazu der gewesene Staatsoperndirektor Ioan Holaender, gleichfalls quasi Rumäne, aus Timisoara/Temesvar abstämmig.

Ich kannte sie. Sie sang nie "einfach so", und sei es unter dem Weihnachtsbaum, wo sie sich bei einem Anlaß, zu dem wir beide eingeladen waren, weigerte, ohne "Aufwärmen" zu singen. Also erfüllte ich den Wunsch der Gastgeber alleine, so gut es eben ging. Sie hütete ihre Stimme wie ein großes Geheimnis, wie einen höchst empfindlichen Schatz. Sie hatte mir angeboten, mit mir Stimmtraining zu unternehmen, denn meine Notenlesekenntnisse sind höchst mangelhaft; im Gegenzug für das Aufsetzen einer Homepage. Die von Luciano Pavarotti gefiel ihr so gut. Es kam nie dazu.

Sie blieb ein großes Rätsel. Das sich auf eine eigentümliche Weise zur Kunst hin öffnen wollte.

Das Leben ist oft viel seltsamer als man es sich in der Kunst darzustellen wagt. Es passiert nicht selten, daß man eine Geschichte nicht verwendet, weil sie zwar passiert ist, weil sie einem aber niemand glauben, als "herbeigezogen" bezeichnen würde. Schon ganze "Vorstellungen" habe ich da erlebt, die unwiederholbar aufblitzen, und ins Nichts absinken. Wo sich Wirklichkeitsebenen ineinanderschieben ... Als würde sich die Welt für diese Minuten oder Stunden ins Paradies zurückverwandelt haben. Wo man Teil eines alles umfassenden Bühnengeschehens war. Wäre da nicht die Reflexion, die diesen Zustand vermeldet.

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