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Dienstag, 21. Dezember 2010

Das höchste Natürliche

Man hat sich genug über die Absonderlichkeiten des Musikers Satié aufgehalten. Sie waren im Bereich der Musik dasselbe wie die Seltsamkeiten des Hl. Philipp Neri im Reich der Gnade. Und hier ist der springende Punkt: Die Kunst ist ein Gleichnis der Gnade. Dichtkunst und Heiligkeit stehen zueinander im Verhältnis einer Analogie; ich nehme das Wort in der vollen starken Bedeutung, die es bei den Metaphysikern besitzt, als Ausdruck der Verwandtschaft wie der Verschiedenheit zweier Wesen. Aus der Verkennung dieses Analogiebegriffs kommen alle Irrtümer über das Wesen der Kunst. Die einen übertreiben die Ähnlichkeit und verwechseln die Kunst mit der Mystik, die anderen entleeren sie und machen aus der Kunst ein Handwerk, eine Technik. 

Doch die Kunst ist von oben, nicht wie die Gnade, die wesenhaft übernatürlich ist und uns an Gottes eigenem Leben teilhaben läßt. Aber die Kunst ist das vollkommenste natürliche* Ebenbild des göttlichen Wirkens. Unsere Kunst ist, nach den Worten Dantes, die Enkelin Gottes. Und sie stammt nicht bloß von jener Kunst ab, die als ihr reines Urbild die Welt geschaffen hat. 

Um eine Vorstellung von ihrem Adel zu erhalten, muß vielmehr das Geheimnis der ewigen Zeugung des Wortes angerufen werden: Die schauende Erkenntnis ist nämlich als solche fruchtbar, und wo sie nicht wie in Gott ein anderes Selbst hervorbringen kann, da will sie wenigstens ein Werk zeugen, das nach unserem Bilde gemacht ist und darin unser Herz fortschlägt."

Jacques Maritain in "Der Künstler und der Weise"


*Ich sage natürlich im Gegensatz zum übernatürlichen Wesen der Gnade Christi. Das hindert jedoch nicht, daß die Kunst in anderer Hinsicht, so wie die erste Philosophie, die Metaphysik heißt, über-natürlich genannt werden kann, insofern sie zwar nicht über die Ordnung der geschaffenen und erschaffbaren Natur schlechthin, wohl aber über die sinnliche Natur und über alle Gesetze der körperlichen Natur hinausragt, insofern also ihr Seinswert der transzendentalen Ordnung angehört.


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