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Freitag, 27. November 2009

Vom rechten Nationalgefühl

Man spricht in Österreichs Medien gerne vom "Rechtsruck" in Ungarn. In den Medien, denn im Alltag spielt Ungarn als Gesprächsthema wohl kaum überhaupt noch eine Rolle: eine Art (private) Ungarische Garde hatte sich voriges Jahr gebildet, ist mittlerweile kräftig geschoren, und war in schaurig-schönen Ritualen in Budapest vereidigt worden. Öffentlich. Und so richtige Handhabe von Gesetzesseite, aber auch: Wille einzuschreiten, schien es kaum zu geben. Ein Land rutscht nach rechts? In den Nationalismus? Ja, war das im Grunde nicht eine Eigenart des Ungarn seit man denken kann, deshalb immer, auch heute eine Gefahr, gar? Und jetzt fühlt sich mancher einzelne Ungar aufgerufen, sein Land zu retten, weil "die da oben", Linke, es ihm nicht gut genug führen? Diese Ungarn also - wieder dort wo sie immer waren, rechts!?

Das ist schon deshalb interessant, weil Ungarn in den Grenzen von heute, mit seinen zehn Millionen Einwohnern, wovon fünfundsechzig Prozent Katholiken, aus allen Befunden als "links" gesehen werden muß: Zwei Drittel der Bevölkerung sind nach externen Einschätzungen wie nach Selbstauskünften als links oder linksliberal einzustufen. Dennoch, bei den nächsten Wahlen scheint tatsächlich ein Sieg der rechtskonservativen FIDESZ (bzw. ihrer Koalitionspartner) so sicher zu sein, daß derzeit bei manchen Kommentatoren gar Fragen nach der Legitimität der momentan noch regierenden Linkskoalition mit dem Ministerpräsidenten Gordon Bajnaj auftauchen.

Ist das dann "rechts"? Fragen nach der Legitimität sind Kernfragen der Demokratie, die gelöst sein müssen, und zwar nicht nur rhetorisch. Solche Fragen werden auch in Österreich regelmäßig gestellt, wenn auch nur im Kaffeesatzton als unterschiedliche "Interpretation des Wählerwillens" verklausuliert.

Sieht man davon ab, daß dieser "Rechtsruck", den alle erwarten, ganz handfeste Gründe hat. Daß er im Grunde kein Ruck "nach rechts" ist, sondern ein "Abschied von der bisherigen Mißwirtschaft und Verlogenheit" (oder so), weil in diesem Lande alles zusammenzubrechen droht. Immerhin stand der Staat innerhalb des letzten Jahres zweimal unmittelbar vor dem Bankrott. Ich möchte nicht sehen, was in Österreich passiert, wenn die Beamten um ihr Gehalt und die Rentner um ihre Rente am ersten des Monats fürchten müssen!

Sieht man weiters davon ab, daß die FIDESZ (samt einem Konglomerat an kleineren Parteien, darunter die Jobbik, die als "radikal nationalistisch-regionalistisch" einzustufen, der auch die Ungarische Garde zuzuschreiben ist) unter Viktor Orbán sich längst sehr "bürgerlich" gibt, seit sie 1993/94 regelrecht atomisiert wurde. Wobei sich gerade in Ungarn die starke Themenzentriertheit der Wahlkämpfe zeigt, und das hat mit dem Nationalgefühl, um das es hier geht, direkt zu tun: so hat in manchen ärmeren Regionen jene Partei Vorteile, die konkrete Themen anspricht, unter denen die Menschen dort leiden. Genau das hat der Jobbik bei den letzten Wahlen, der EU-Parlamentswahl 2008, in Gesamtungarn fast fünfzehn Prozent eingebracht, der FIDESZ "nur" fünfundfünfzig Prozent. Regional hat die Jobbik mit einem stark themenbezogenen Wahlkampf als stärkste Partei aber sogar die regierenden Sozialisten geschlagen.

Sieht man auch davon ab, daß der Standort des Durchschnittsösterreichers, zumindest seine Begriffswelt, so weit links gerückt sein könnte, auch ohne daß das von den Leuten selber (wohl aber von politischen Kräften) so gewollt war (oder: ist), daß schon jede traditionelle, dem Abendland verwachsene Bürgerlichkeit als "rechts = Hitler" verdächtigt, ja dieser Begriff "rechts" selbst zumindest unbewußt kriminalisiert wird, womit sich die Anti-Bürgerlichkeit in Österreich längst zum Massenphänomen entwickelt hat, dem auch traditionell bürgerliche Parteien wie die ÖVP unterliegen. Unter deren Jugend, wie Studien ergaben, ein außerordentlich hoher Anteil an "Links-Grünen" zu finden ist.

Sieht man von allem dem ab - stimmt eines auf jeden Fall, und das scheint den Österreichern nun quasi offiziell aufzufallen (denn sonst nimmt man ja in diesem Land von Ungarn, ja von allen Nachbarn gar, schier überhaupt keine Notiz: was weiß ein Österreicher von seinen vielen Nachbarvölkern, mit denen er noch dazu so lange Jahrhunderte in einem Staat verbunden war?): Aus der Geschichte heraus hat die Frage nach der "Ungarischen Nation" einen völlig anderen Stellenwert, als er hierzulande überhaupt noch nachvollziehbar scheint. Und das erzählt viel. Denn eines ist gewiß: wer immer sich in Fragen des Geistes vertieft, kommt unweigerlich zu den Fragen Staat, Volk, Sprache, Nation ...

Seien wir ehrlich: Wir wagen uns diese Fragen doch gar nicht mehr zu stellen!? Wir wagen es doch gar nicht mehr, diesen Begriffen auf den Grund zu gehen, um ihre Relevanz zu erfahren! Weil wir gar nicht sehen wollen, was wir fürchten, daß herauskommt? Weil wir dann plötzlich mit politischen Forderungen konfrontiert würden, die 30, 40, 50 Jahre Politik des vollen Bauchs unter ganz anderem Licht als sehr grundsätzlich ungenügend erscheinen lassen?

Der Österreicher kann darauf gar keine Antwort geben. Er KANN es nicht. Ich habe selbst erlebt, wie in Männerversammlungen das Wort "Heimat" gar nicht mehr ausgesprochen werden durfte. Keiner hat es gewagt! Aus Angst, sofort als Faschist verleumdet zu werden. Und die Angst vor Verleumdung ist hierzulande längst zur Dominante geworden. Es ist die Angst, zu etwas zu stehen. Zu dem andere - siehe Ungarn - offenbar noch stehen wollen?!

Gerade! müßte man noch dazu fast sagen: gerade in Österreich ist die Kraft solcher Ideen nicht nachvollziehbar ... aber was war denn Österreich je mehr als eine "bodenlose Idee", was ist es heute mehr?! Seit 1805 ist es sogar eine Staatsidee ohne Nation, und darum schon gar nicht überlebensfähig gewesen, bereits allerdings 150 Jahre zuvor auf eine Schiene geschoben - denn zu Anfang des 30-jährigen Krieges war diese Diskussion entscheidend: weil es um die Rolle Böhmens ging, ob Böhmen überhaupt Teil des Deutschen Reiches sein könne, ein Aspekt, der viel zu sehr vernachlässigt wird: denn nun fielen die letzten Schranken des Umbaus des Reichs in einen Habsburgismus, der letztlich fatal und in einem Zerreißen der Nation enden mußte, das die Habsburger (wie schon manche Herrscher zuvor, machen wir uns nichts vor: bereits ein Friedrich II. verspielte im Grunde doch schon das Reich) leider bewußt riskierten, indem sie die Nation zugunsten eines Weltreichs auflösten - was nur in einem einzigen Herrscher andeutungsweise "funktionierte", dann war Schluß, dann zerfiel es wieder in Nationen: in Karl V.

Sollte uns das nicht zu denken geben? Und mehr noch, um diesen Begriffen ihre falschen Schleier fortzureißen, um zu zeigen, daß dahinter keine Fratze der Häßlichkeit wartet: welche Nation der Welt könnte anderes sagen, als daß sie eben eine Idee ist, begründet auf einem hervorstechenden Merkmal, der gemeinsamen Sprache? Zu unterscheiden noch von der Staatsidee, der eigentlichen Reichsidee, die ganz andere Bezugspunkte hat und oft genug Gefahr läuft, der "natürlicheren Idee", der Nation, zum Opfer zu fallen - siehe USA! Natürlich: Siehe Österreich ... 1805 - 1918.

Und was war die erste Reaktion des Rest-Österreichs? Es fand sich nach dem Zerfall der Staatsidee - in der natürlichsten Reintegration, nämlich der in die Nation, der man selbst angehörte ... das Land der Deutschen. Gerade übrigens auch von den Sozialisten so vehement angestrebt. Wenn man sonst schon nichts mehr war - das aber war doch unstreitig: deutsch!? Klar, denn die Verfechter der Staats-/Reichsidee "Österreich" waren anderwärtig ausgerichtet. Und sie mußten scheitern, weil einerseits der Mut, anderseits die Möglichkeit fehlte, diese Idee zu restaurieren: in einer Monarchie.

Der Rest der Geschichte ist ja zum Teil erinnert. In den apokalyptischen Ereignissen von 1938 bis 1945 wurde der letzte Rest an Möglichkeit, sich in die eigene Nation zu reintegrieren, scheinbar unwiederbringlich ruiniert. Man kann diskutieren, ob nicht dieses neurotische Verhältnis Österreichs zu Deutschland (das dem der DDR sehr ähnelte) genau und nur dort seine Wurzeln hat: in der offenen Wunde der fehlenden, nein: vorenthaltenen Nationalität. Der Österreicher zumindest lebt nämlich im Grunde in einem eigenen Land in der Haltung eines Emigranten, die Parallelen sind zu auffällig. Seine Haltungen sind exakt jenen ähnlich, die 1938 nach New York oder Los Angeles in "Burgenlandkellern" und "Wiener Kaffeehäusern" gepflegt worden sind, und die bis heute dort dieses Gespenst pflegen.

Und aus dieser (wahrscheinlich: gewollten, in jedem Fall durch ein riesiges Tabu umwölkten) Unmöglichkeit heraus wird diese Frage gerne und völlig schwachsinnig, weil dieses Problem in Wahrheit eines ist, das zu jeder Politischen Richtung "quer" steht, in Verbindung mit Faschismus und Nationalsozialismus gebracht. Zumal es linken Gruppierungen - denken sie kurzsichtiger Weise - nützt. Diese Keule wirkt bis heute und immer und alle zittern davor, als Verbrecher verleumdet zu werden. (Und ich spare mir nun bewußt den rituell notwendigen Kotau um zu beweisen, daß ich ohnehin auch "gegen Ehschonwissen" bin, usw. usf.)

Die ungarische Nationalhymne beginnt mit einer Klage vor Gott. Sie versteht sich als Gebet und wurde selbst unter der Kommunistendiktatur ob der befürchteten Proteste nicht geändert! Gott möge nach so langer Unterdrückung seinen Ungarn doch endlich Glück schenken. Der Ungar sieht sich und seine Geschichte so: als eine Geschichte der Unfreiheit und Unterdrückung, die erst 1989 vorläufig endete. Aber er weiß, was es heißt, die Freiheit zu verlieren, ja dieses Wissen ist Teil seiner Identität geworden: die Nationalhymne ruft aus einer Situation der Bedrückung! Aus diesem Gewahrsein der Bedrohtheit, über deren historischen Wahrheitskern man nicht diskutieren muß, hat die Zugehörigkeit zu diesem Land, hat der Nationsbegriff, einen für Österreicher kaum vorstellbaren realen Gehalt. Der auch über alle Parteigrenzen hinaus verbindet! In Ungarn lebt diese Idee noch.

Wenn sie auch längst schwächelt: Vierzig Jahre Kommunismus haben ihre Spuren hinterlassen!  Falscher, vorgeblich aufmuntern sollender Optimismus, was die Schäden in Seelen, Herzen und Gebäuden anbelangt, hat schon zu oft in fatalen Realitätsverlust geführt, die Krisen der letzten Jahren sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen. Die Selbstmordrate war die weltweit höchste! Mit, übrigens - und das ist interessant - den übrigen fatalen Verlierern ihrer Nationsidee: Japan und Österreich, wie man hört: auch die DDR. Zumindest ein bemerkenswertes Detail: Allesamt Nationen, die aufgrund der historischen Ereignisse von außen her gezwungen wurden, der Idee ihrer selbst, ihren höheren Traditionen, ihrer Selbstbegründung, abzuschwören.

Übrigens: auch in Österreich lebt solche Idee, aber sie hat ihre Fundamente in den Bundesländern, vergesse man das nicht! Und studiere man dazu die Landeshymnen, studiere man dazu die Landespolitiken!

Aber wäre es in Österreich denkbar, die Habsburgerkrone (den "Hut") öffentlich so zu verehren, wie es in Ungarn mit der Stephanskrone, alljährlich zum 20. August, dem Stephanstag, bis heute geschieht? Wo ein ganzer Hauptplatz einer Komitatsstadt wie Sopron (Ödenburg) niederkniet, um dann die Nationalhymne, das Gebet, inbrünstig, betend, zu singen, nein, nein: mit Tränen in den Augen zu rufen!?

Bestenfalls noch in Landeshymnen, wie der von Niederösterreich. Da schrieb es Franz Karl Ginzkey, und was noch heut' gesungen wird: "Oh Heimat, Dich zu lieben, getreu bis in den Tod, im Herzen steht's geschrieben, als innerstes Gebot" - so jedenfalls habe ich es immer gesungen. (Die offizielle Version singt freilich heute: "getreu in Glück und Not." Da war's mir gewiß schon als Kind immer leid um die vertane Dramatik.) Und da taucht auch noch auf: "Wir müh'n uns Dir zu dienen", sowie: "gilt es zu dir zu stehen, mein Niederösterreich!" Wir sollten sie also noch kennen, diese Bezüge ...

Und spätestens jetzt wird klar: dieses heutige Österreich ... ist anders als Ungarn nie ein "Land" gewesen, das mit den heutigen Gegebenheiten, dem faktischen heutigen Österreich, etwas zu tun hat: diese Idee Österreich ist tot, und sie ist bis zum heutigen Tag nicht wieder auferstanden. Es fehlt jede historische Kontinuität, die diese Idee am Leben erhalten hätte, und eine wirkliche Neuschöpfung fand nie statt. So ist die Geschichte dieser Landstriche zwar eine österreichische - aber sie ist weit weg und fern, sie ist wie hinter einem Schleier verborgen, wie eine Mär aus einem Traumland, das auf dieses Heute keine Befruchtung mehr ausüben kann. Und darf. Österreich heißt zwar Österreich. Aber es IST kein Österreich ... Es IST ein Kärnten, ein Tirol, ein Salzburg, ein Oberösterreich, ein Burgenland ..., weil das auch nie anders war. Das Verbindende, das zu einem Staat wirklich verbindende, ist vielleicht nur eine hauchdünne, wie Zellophan zerreißbare Mogelverpackung.

Es hat so gesehen seine ganz eigene Logik und Richtigkeit, daß in diesen Tagen ein Österreicher EU-Kommissar für Regionalfragen wurde! Vielleicht ist das genau deshalb so bemerkenswert, weil das Bewußtsein zum Bild konstruiert, was fehlt. Ein Regionenkommissar, der gar keine Nation kennt, der diesen Begriff nicht als Heimat erfahren hat und doch von seinen Inhalten getragen wurde ... Womit nicht verwunderlich wäre, wenn klammheimlich genau diesem Kommissar, wenn er alle Gebote zum Selbsthaß, die dem Österreicher als Geburtseid abverlangt sind, umschiffen kann, eine erst kaum bemerkbare Akzentverschiebung "unterlaufen" würde ... Region, Nation ...

Diese "Bundesländer" nun, sie haben alles, sie haben auch ihre Symbole, sie haben den Bezug ihrer Identität und ihrer Ehre. Aber ein Österreich - hat keine Krone mehr. Die liegt weit ab, in einer Schatzkammer, als Museumsstück, als Erzählung aus einem Land weit weit weg. Selbst die historischen Verantwortungen in seinem geographischen Raum hat ja Österreich nach 1918 weit von sich geschoben. Seit damals waren alle auftauchenden Fragen der Siebenbürger, der "Schwoben" (Ungarndeutschen), der Banater, Gotscheer, Batschka, Sudeten und Schlesier - solche Deutschlands. Wie erst ja auch wir. Da wußten wir es noch.

Sie, die Krone, ist eben Symbol (dabei: eines von  mehreren) für einen Bezug, der das Leben eines Volkes, hier wieder: jedes Ungarn, bis heute gar mit dem Bewußtsein bereichert, ja sinnvoll macht, daß er in eine Solidargemeinschaft (s. unter anderem Max Weber) kraft Geburt eingebettet ist, dem er einerseits viel, ja sein Leben verdankt, das ihn anderseits aber auch braucht, dem er zugehört. Dieses Volk ist weit mehr als die Menschen, die ihn zufällig umstehen. Es ist eine Idee vom Menschsein! (Magyar heißt vermutlich: "Magy/Mann-er/Mensch") Ein Sammelpunkt von allem, was jeder einzelne Ungar sein und haben kann. Und diese Idee ist nicht zufällig und zusammengestoppelt, sie ist eine Idee im Herzen und Willen Gottes, also Gebot gleichermaßen wie vor allem Verheißung.

Es gibt also immer ein "wofür", so schlimm auch alles kommen mag: In diesem Bezugspunkt. Der ist unzerstörbar, und er lebt, solange jeder für sich ihn hochhält, und er ist konserviert, im Gedächtnis Gottes! Dann hält diese Idee auch jeden einzelnen hoch, läßt ihn alle Unbill ertragen, läßt in größter Not überleben, und macht jeden Einzelnen zum Träger und Verwalter eines Erbes, nein: zum Mitwisser, zum eingeweihten Repräsentanten dieser Idee, mit Rechten, mit Pflichten. So daß es einen Gehalt hat, wenn er sagt: Ich bin Ungar! Es sagt: In mir wird die Idee des Ungarn sichtbar! Und ich werde dieser Idee niemals Schande machen, solange ich lebe, ja im Gegenteil: ich werde ihren Ruhm mehren, von dem alle meine Nachfahren noch zehren können, um dasselbe zu tun! Ich werde zeigen, daß diese Idee, die Idee des besten Menschseins, in allen historischen Bezügen, bedeutet.

Aus dieser Idee erst - und der Lebendigkeit, in der sie noch präsent ist - ergibt sich eine Einschätzung eines Volkes, ergibt sich seine Kreditwürdigkeit, seine Vertrauenswürdigkeit. Nicht aus momentanen Nöten, Schwächen und Geschicken. Und alle, die Ungarn sind, sie alle sind Mitglieder dieser Solidargemeinschaft, weil alle gleichermaßen sowohl in Pflicht und Treue wie in Liebe dieser Idee ihr Leben hinzufügen. Sodaß alle verbunden sind, in einem riesigen, von Eigenheiten zu einem Organismus selbst geprägten Mosaik von Bedarf und Dienst, von Beruf und Gebrauchtheit. Je vollkommener dieser Organismus ist, umso mehr kann er an der Völkergemeinschaft wiederum, dem kontinentalen, dem globalen Völkerdorf, seinen Dienst erfüllen.

Von dieser Warte aus wird das Wohlergehen Ungarns zu einem nationalen Anliegen ganz anderer Art. Und das kann niemals als simpler "Umtrieb der bösen Faschisten" mißdeutet werden, auch wenn es in manchen Färbungen faschistoide Züge annehmen kann - dazu unten. Noch 2006 wurde in einer Volksabstimmung eine Mehrheit (1,5 Mio für, zu 1,4 Mio dagegen) dafür erzielt, allen Ungarn, auch jenen, die als Minderheiten in den angrenzenden Staaten lebten, die ungarische Staatsbürgerschaft (mit allerdings etwas verminderten Rechten) zuzusprechen. Wohl aus außenpolitischer Raison, aber auch weil die Sozialisten regierten, die gegen dieses Anliegen waren, wurde es nicht verwirklicht.

Am interessantesten war wohl die Begründung, die für dieses Anliegen geboten wurde: Weil so jeder Ungar, egal wo er lebt, weiß, daß er einen Ort hat, dem er zugehört. Das zeigt, daß es in Ungarn noch Köpfe gibt, die die Bedeutung des Staates für den Einzelnen richtig einzuschätzen wissen. Und mit Adam Müller wissen, daß aus einem gesunden Staatsbezug Prosperität im Einzelnen erwächst - aber nicht umgekehrt. Diese Metaidee - die Nation, nicht "der Staat" (wie in Österreich!) - sollte dem Ungarn Identität geben, wo auch immer er sich aufhält. Sie sollte ihm einen Boden für sein In-der-Welt-sein geben.

Realpolitisch war es als Maßnahme auch gegen den in Ungarn längst eingetretenen Bevölkerungsschwund propagiert, und so gesehen nicht unklug: Als Anreiz zur Niederlassung für die Ungarn in den Nachbarstaaten genauso, wie für die Heimischen, gar nicht fortzugehen. Alleine in den fünf Jahren von 2001 bis 2006 hat nämlich die Bevölkerung des Staates Ungarn um 200.000 abgenommen, das sind fast 8 Prozent der arbeitenden Bevölkerung! Zum einen: durch die wie in ganz Europa extrem niedrige Geburtenzahl. Zum anderen aber durch Abwanderung, und häufig gerade der besten Köpfe, ein Problem sämtlicher Oststaaten seit der "Wende" übrigens.

Erst in diesen Tagen las man in ungarischen Blättern, daß Ungarn nun sogar ein schlagendes Problem der Ausbildung habe - zuwenige Fachkräfte, selbst im Handwerk, zuwenige kompetente Akademiker. Und wer kennte nicht Ungarn, in Wien, in den österreichischen Städten in denen sie (vor allem seit 1956) so zahlreich und doch so unauffällig leben, in ihrer bekannten Tüchtigkeit. Es scheinen ... die besten gewesen zu sein, die gingen. Eine doppelte Doktorin - der Rechte und der Wirtschaft - die heute in Wien lebt, meinte mir gegenüber: sie (ihr Mann ähnlich) hätten in Ungarn einfach keine adäquate Arbeit finden können. So gingen sie ins Ausland, mit Herzschmerz. Denn sie lieben Ungarn.

Sie lieben Ungarn. Lieben wir Österreich? Tun wir etwas um des Landes willen? Für andere, für den Begriff "Österreicher", für unsere Nachfahren ... Nicht daß ich sage: wir müßten es! Aber schön, schön wäre es, in solch einem Land zu leben?

Historisch sind die Ungarn, als ursprüngliches Reitervolk, ohne Boden, also immer auf eine Metaidee angewiesen (ähnlich den Türken!), immer auf eine einigende Idee angewiesen gewesen. Daran hat auch die Zuweisung der Karpatischen Tiefebene an sie als Lebensraum, nach ihrer Besiegung am Lechfeld, nichts geändert. Was an der Art der landwirtschaftlichen Nutzung erkennbar wird - der extensiven Viehwirtschaft, bis heute.

Zumal es "den" ethnischen Ungarn kaum wirklich gibt, weshalb die ungarische Sprache als Träger der Nationalität so eine große, historisch nicht immer unproblematische Rolle (die Magyarisierung fremder Völker, die auf ungarischem Boden lebten, ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte dieses Landes) spielt - die Magyaren waren nur einer von zehn Steppenstämmen, die Europa im 9. Jahrhundert ständig heimsuchten.

Erst nach der vernichtenden Niederlage im Jahre 955 durch Kaiser Otto I. wurden sie "Mitglied der Europäischen Völkerfamilie", und geeint unter Arpad, dann unter dem Hl. Stephan, dem ersten gesalbten König Ungarns, im heutigen Gebiet, dem Karpatischen Becken, das topographisch bis an die Adria reicht, seßhaft. Im 13. Jahrhundert fast ausgerottet (50 Prozent Bevölkerungsverlust durch Tataren- und Mongoleneinfälle), bat König Bela I. schließlich Deutsche, Schwaben, die verwaisten Gebiete neu zu besiedeln ... so entstand dieses Naheverhältnis (und dieses Thema wäre damit auch geklärt).

Dann kamen (ab Mitte des 16. Jahrhunderts) die Türken, fast 200 Jahre lang, und dann - die Habsburger. So sehen es die Ungarn. Die seit dem Tode des letzten ungarischen Arpadenkönigs im Jahre 1301 nur eine glückliche Zeit kennen: die unter Matthias Corvinus (1459-90), der die Herrschaft derer von Anjou unterbrochen hatte. (Genau, die uralte Gegnerschaft Frankreich - Römisch-deutscher Kaiser, die die ganze europäische Geschichte so kennzeichnet ...)

1918/19 verlor Ungarn (in den Diktaten von Trianon) nahezu zwei Drittel seines ehemaligen Staatsgebietes, und fast die Hälfte seiner Bevölkerung. Noch heute leben rund 5 Millionen Ungarnstämmige, bis heute ungarisch Sprechende (man schätzt, daß heute aber nur noch rund 10 Prozent der Bevölkerung der Abstammung nach "Magyaren" sind) nicht in Ungarn, vor allem in Rumänien, Kroatien und der Slowakei. Das ehedem ungarische Gebiet "Westungarn" (Burgenland) hat sich ja bekanntlich Österreich einverleibt. Das, gewiß, an anderen Stellen empfindlich halbiert wurde, denn es sollte nach Sprachengrenzen gehen. Zumindest sagte man das zuerst - es kam bei den großen Verlierern, und das waren vor allem Österreich und Ungarn, wie man sieht, ziemlich anders.

Die Ungarn haben sich also schon - aus ihrer Geschichte erkennbar - seit Jahrhunderten zu behaupten, im wahrsten Sinn: Sie müssen sich behaupten! Wenn sie es nicht tun - niemand sonst würde ihre Existenz in die Welt setzen! Weil ihnen also sonst das Dasein als Nation abhanden gekommen, weil genommen wäre. Ein Volk kann eben nur, und das immer und ausschließlich, als "Nation" existieren kann, wie sonst? Nation ist die Daseinsform eines Volkes - so wie die Daseinsform von Shetlandponys die von "Shetlandpony" ist. In der Form eines Staates, oder Landes, oder Teilstaates, oder in der Diaspora ... diese Form ist variabel. Aber ein Volk, das aufhört, sich als Nation zu empfinden, zu sehen, verliert seine eigene verbindliche, es zu sich selbst machende Norm, es verliert sich also selbst. Und muß unweigerlich untergehen, bzw. weil es keine "herrschaftslosen Räume" in der Geschichte gibt: in einem anderen Volk aufgehen. Ein Volk geht nicht unter, weil seine Bürger dekadent werden, weshalb die Nation unter die Räder kommt, sondern weil die Nationsbezüge verfallen, weil sich die Staatsidee verflüchtigt. Bis niemand mehr diese Staatsidee für daseinswürdig hält. Gerade Rom ist ein hervorragendes Beispiel, solche Vorgänge zu studieren, genauso wie Ungarn, und wie erst Österreich.

Nationalgefühl, das es, weil nie abgesprochen oder gefährdet, gar nicht nötig hat, sich "apodiktisch zu behaupten", ist die erste Kraftquelle des Singulären, und ist jener Topf, aus dem sich die Kreditwürdigkeit, also das Zutrauen der Welt, nährt. Und sie ist in Notzeiten, da, wo sie behauptet werden muß, gegen die Angriffe der Nichtbehauptung, provoziert seine Repräsentanten zur rückhaltlosen Selbstüberschreitung, zur Hingabe.

Denn alle Dinge beziehen ihre Identität aus ihrer höchsten Möglichkeit. Aber alles handelt erst in seinen Möglichkeiten, wenn es dieses Selbstsein in der Welt weiß. Darum ist es diese Idee wert, sein Leben dafür einzusetzen - für kommende Generationen zumindest.

Wenn dazu keiner mehr bereit ist, siehe Rom, dann ist es eben zu Ende. Vielleicht nicht heute, sicher aber morgen. Denn ohne solche Idee zu leben, bringt ohne jeden Zweifel einen Rückfall in schlimmstes, primitivstes Banausentum, in seelische Verelendung, die alles, was überhaupt noch Kultur sein kann, in einer abstoßenden Freß- und Fickmoral erstickt.

Ich bin überzeugt, wenn man untersuchte, wieweit Nationalstolz und Lebensglück, Lebenskraft und -mut korrelieren, daß sich ganz klare Bezüge ergeben. Denn nur wer Identität hat, kann entschlossen handeln, kann überhaupt irren, kann aber auch glücken.

Gewiß, ich schreibe hier von "den Ungarn", obwohl es faktisch nur einen Teil der Ungarn betrifft, denn zwei Drittel der Ungarn sind sozialistisch, und das ändert sich nicht von heute auf morgen! Das Wiederaufkeimen dieser nun vielleicht etwas klareren Idee ihrer selbst ist in Ungarn aber nun tatsächlich als "politische Idee" erneut aufs Tapet gekommen. In Stellungnahmen von Viktor Orban, dem bereits einmal Ministerpräsident gewesenen, wie wohl auch den bald wieder dieses Amt bekleidenden Vorsitzenden der FIDESZ, kommt die Sprache erstaunlich klar auf diese Aspekte. Und so ist auch die von den Sozialisten verhinderte "Doppelstaatsbürgerschaft" für alle Ungarn, ob innerhalb oder außerhalb der Staatsgrenzen lebend, zu verstehen gewesen. Die Idee der Nation soll wiederbelebt werden, als neues Erschließen einer Kraftquelle, um die Ungarn so von innen heraus wieder auf die Beine zu bringen. Wenn das die Bedrohungsquelle der Linken hierzulande ist, dann haben sie recht, und es ist wohl auch so. Denn der Instinkt der Linken, mit dem sie alles wittern, was aufrichtet, anstatt niederreißt, ist beträchtlich.

Aber dem Ungarn ist sein Land wichtiger als Partei oder Richtungsstreit, er denkt politisch pragmatisch - für sein Land! Das kann sich, und spätestens hier muß es klar sein warum, ein Österreicher (was ist das eben?) so gar nicht vorstellen. Dadurch aber sind auch die extremen Schwankungen bei Wahlen, von ganz links bis ganz rechts, erklärbar: war die FIDESZ 1993/94 fast aufgelöst auf 7 Prozent, hatte sie 2006 44 Prozent, und 2009: 56 Prozent, während die Sozialisten binnen drei Jahren von 46 auf 17 Prozent gefallen sind, gerade noch mehr als die ganz rechte Jobbik. Der Ungar wählt jene Programme, die seiner Meinung nach für sein Land gut sind, er ist nicht wie in Österreich mit einer Partei verschwistert. Das kann man als demokratische Unreife sehen, man kann darüber diskutieren ob ein ähnliches Phänomen in Österreich nicht Auflösungserscheinung ist - es gründet in Ungarn in jedem Fall dort, was über allen historischen Wandel entscheidender Stabilitätsfaktor blieb: ein Ungar ist zuallererst Ungar! Für die Freiheit, den Bestand seines Landes läßt er sich auch von Panzern niederwalzen, dafür schießt er auf Besatzer! Der Österreicher ist dieser Tradition längst entfremdet ...

In Ungarn muß man das auch den jungen Menschen nicht erst erklären, oder aufschwatzen. Ich habe noch nirgendwo so deutlich erlebt, wie selbst städtische Jugendliche, in Disco-Outfit, in größter Selbstverständlichkeit Volkstänze tanzen, und in diesen unnachahmlichen Bewegungen ihre Stiefel knallen lassen. Und wenn am Marktplatz eine Gruppe aus einem Nachbardorf Volksmusik macht, dann hat das niemals den Charakter einer musealisierten Touristenfolklore - die Gesichter der Männer, der Frauen, die im Wechselgesang sich anstacheln, sich verspotten, sich necken, die tragen echte Freude und Lust. Sie sind stolz auf ihr Dasein, und sie sind einerseits rasch beleidigt, wenn sie ihr Land zuwenig geachtet fühlen, anderseits öffnen sie jenen alle Türen, die sie einfach sein lassen, die guten Willen zeigen, sie zu respektieren.

Auf einmal sprechen sie selbstverständlich in der Sprache des Gastes (und es können z. B. viele Ungarn sehr gut Deutsch!), fühlen sich geehrt und reagieren lächelnd mit Großmut, wenn man sie in ihrer Sprache anzusprechen versucht, dabei im Stolpern über so manches auf die schwierige Sprache hinweist, die sie (angeblich) haben - sie haben eben noch eine Eigenart. Und die lieben sie, sie ist oft genug in der Geschichte unter die Räder gekommen. Aber sie hat überlebt. Als unsterbliche Idee, der gegenüber alle verpflichtet sind. Darum hat man auch unlängst erst - und nicht nur in "rechten" Kreisen - auf die vom ungarischen Nobelpreisträgers Kertesz in Interviews geäußerte Kritik an seinem Land so empfindlich reagiert: er kann sagen, was er möchte, aber warum ... macht er Ungarn im Ausland schlecht? So empfindet das der Ungar.

Diesen Nationalismus DER UNGARN als Bezugspunkt ihrer Selbstachtung, auch in größter Not und Bedrängnis, aber nicht zu bewundern, sondern ihn primitiv als Faschismus zu desavouieren, zeugt nicht nur von wenig Verstand. Sondern von einer aggressiven Forderung nach nationalem Selbstmord, nach Erniedrigung zum quiekenden Schwein, das nur noch an den vollen Napf denkt - der die Ungarn hoffentlich noch lange widerstreben werden. Die noch so viel an Eigenem haben, an Lebendigem, das in der grotesken Privatheit und Rückständigkeit, die der Kommunismus schuf oder zuließ, noch überlebte. Denn solchen Nationalstolz, der jedem Volk eigen sein sollte, zu "bekämpfen" schafft (!) erst jene Formen, die einem Volk gar nicht mehr Nationalismus, sondern dessen "Rettung" - und hier wird er, wird jedes "Gute" möglicherweise zum Faschismus - notwendig machen.




*271109*