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Mittwoch, 5. Februar 2014

Pflicht zum Widerstand

Es kann einem schon seltsam erscheinen bei näherem Studium der Geschichte des Widerstandsrechts feststellen zu müssen, daß es bis ins Mittelalter auf eine derart selbstverständliche Weise gehandhabt wurde, daß man meinen könnte, es hätte noch nie derartig autoritäre Zeiten gegeben wie - heute.

Wenn Thomas v. Aquin den Tyrannenmord als gerechtfertigt darstellt, so ist das kein Sonderfall eines gelangweilten Denkers, sondern fügt sich in ein allgemeines Rechtsempfinden, das durch die aufkommende Renaissance (die geistig bereits im subjektiven Autonomismus enthalten lag) gefährdet war. 

Denn seit alters her war es - und ganz besonders bei den Germanen - im allgemeinen Rechtsempfinden verankert, daß die Gehorsamspflicht sich nie vorbehaltlos auf den Regenten, den König bezog, sondern auf "die Krone". Kein Herrscher konnte gegen das Volk regieren, ein solcher wurde nie zur Macht gehoben, oder erfreute sich ihrer nicht lange. Die Zahl der Thronstürze sind deshalb zahllos, und sie zeigen kein Rechtschaos, wie man fälschlich meinen könnte, sondern im Gegenteil: die Verankerung des Einzelnen im Recht selbst.

In den überlieferten Krönungszeremonien drückt es sich aus: Erst mußte der Thronprätendent sich verpflichten und schwören, die göttlichen Gesetze und die Rechtsordnung der Väter zu befolgen und zu schützen. DANN erst wurde er durch Akklamation durch das Volk (als mehr oder weniger auf einen Formalakt beschränkter Wahl) gewählt, und dann (später) gesalbt.* Was wieder für manche Mißverständnisse Anlaß gab. Erst galt das Königtum einige Jahrhunderte als Sakrament, und dann bildete sich im Volksglauben, in Anknüpfung an altes Volksempfinden, die Quasigöttlichkeit des Königs selbst heraus. Die Kirche aber hat alles dieses stets bekämpft, und sich in ihrer Stellung dem Herrscher als GEGENÜBER begriffen. Und entsprach damit dem Volksempfinden. Niemals wurde Herrscherwillkür akzeptiert! 

Wollte ein König Änderungen durchführen, Neuerungen, so sah er sich in der Regel rein auf seine privaten Möglichkeiten beschränkt. Etwas wie heute, wo sich die Politik regelrecht als "Gestalterin" des Gesellschaftslebens begreift, hätte es sowohl bei den Germanen wie im Mittelalter NIEMALS gegeben. Es hätte jedes Recht verletzt. Diese Gedanken kamen mit dem Wiederaufleben des römischen Rechts, und sie kamen mit der Zunahme des orientalischen Einflusses, wo die Sichtweise der Göttlichkeit und damit Absolutheit des Herrschers seit Jahrtausenden üblich war. Der Absolutismus in Europa ist sehr jungen Datums.

Die Großen der Völker, die Adeligen, hätten Zentralismus niemals zugelassen, bildeten ein Gegengewicht zum Herrscher. Was mit der Zentralmacht deshalb zwangsläufig mit der Erstarkung der Herrschermacht (Stichworte: Handel - Städte - Bürgertum - Geld) kam war die Auswechselung des Adels - vom Volks- und Landadel hin zum Beamten-, Geld- und Herrscheradel. Selbst Außenpolitik war damit strengstens an das Volksempfinden gebunden. Imperiale, persönliche Gelüste hatten kaum eine Chance, stießen auch oft genug auf Widerstand, oder wurden zur Privatangelegenheit des Herrschers, für die er allenthalten Allianzen im Volk suchen mußte.

Wer etwa die Geschichte Tirols ansieht, wo die Freiheit noch so ungebrochene Tradition hat, stellt diese erstaunliche Stärke des Volkes immer wieder fest. Nie hätte ein Tiroler die Waffe zu anderen Zwecken als der Verteidigung seines Landes erhoben, nie sich für Außenpolitik mißbrauchen lassen. Darüber (und über mehr) hat sich erst die absolutistische Maria Theresia hinweggesetzt. Außenpolitik dieser Art war eine Frucht der Marken (wie Preußen, Österreich), die von Boden- und Wurzellosen besiedelt wurden, wo eine völlig andere Rechtssituation als in den alten Ländern herrschte.

Die Geschichte Englands in ihrer freiheitlichen Tradition, dem Widerstand gegen absolute Königsmacht, ist deshalb auch wohl den Sachsen zu verdanken, bei denen die Freiheit des Einzelnen besonders stark verankert war.

Aber wenn noch im Mittelalter der Herrscher gegen göttliches Recht verstieß, ging er seiner Herrschaft verlustig. Beispiele gibt es jede Menge. (Und in Wahrheit lebt dieses Rechtsempfinden sogar bis heute; selbst wenn man Politiker der Korruption anklagt, hat das diesen Hintergrund.) Der Widerstand war zum einen Recht, aber er war noch viel mehr PFLICHT jedes Bürgers seinem Volk und Land gegenüber. Unrecht des Herrschers entband den Einzelnen sogar vom Eid. Der sich in einem solchen Fall erhob, um gegen den (konkreten, aber geschändeten) Thron FÜR den Thron, nämlich für seine Würde und Unangetastetheit in der objektiven Stellung des (egal welches) Regenten in der Ordnung des Landes zu kämpfen.

Wobei sich jeder direkt dem König gegenübersah, wenn ungerechte Gesetze verhängt wurden. Hier gab es keine Standesschranken, Könige sammelten so oft viele sehr persönliche Feinde. Und niemand nahm sich ein Blatt vor den Mund, wenn er der Meinung war, daß der Herrscher gegen das höhere Recht verstieß.

Hier findet sich auch eine wesentliche Aufgabe der Kirche, die sie auch damals zumindest einhielt, damit auf der Seite des Volkes stand, weil es dessen Ordnung im Zusammenleben schützte. Ihr ausgearbeitetes und formalisiertes Widerstandsrecht verband sich hier mit dem alten germanischen Rechtsempfinden, wie es bis heute lebendig ist.

In der Praxis war es freilich nie leicht, und ist es im Rückblick noch weniger, zu entscheiden, was rechtmäßige (weil den Heiligen Gesetzen folgende) Rebellion war, und was nicht. Und gewiß auch damals wurde oft genug darüber gestritten. Aber niemand hätte das prinzipielle Recht (als Pflicht) zum Widerstand gegen einen ungerechten Herrscher angeweifelt.

Das stellt man mit Wehmut fest. Es ist der Freimut, der uns so fehlt. Der Untertanengeist, in dem wir lieber unsere Ehre verlieren, als uns falschen Gesetzen nicht zu beugen.




*Wobei ein Rest dieser Auffassung, daß ein Herrscher nur MIT der Zustimmung des Volkes regieren durfte, auch in der römischen Zeit als allgemeines Rechtsempfinden erkennbar ist. Anders ist vieles nicht zu verstehen, meint Fritz Kern in seiner Untersuchung des Widerstandsrechts. Also auch den romanischen Völkern nicht fremd gewesen sein dürfte.




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